Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Woelffe
Vom Netzwerk:
mit Beeren geschmückt,
die Fialen gewundene Stängel, Rosen überwuchern die Pfeiler, Blüten und Samen
gedeihen auf einem Stiel; aus dem Blattwerk lugen Gesichter hervor, die
Gesichter von Hunden, von Hasen, von Ziegen. Auch menschliche Gesichter, so
lebensecht, dass sie vielleicht ihren Ausdruck ändern können; vielleicht
starren sie verblüfft auf die beleibte scharlachrote Gestalt seines Förderers
hinab; und in der Nacht, wenn die Kanoniker schlafen, pfeifen und singen die
Männer aus Stein vielleicht.
    In Italien hat er ein
Gedächtnissystem erlernt und mit Bildern ausgestattet. Einige stammen aus Wald
und Feld, aus Hecken und Hainen: scheue Tiere im Versteck, helle Augen im
Dickicht. Einige sind Füchse und Hirsche, einige Greife und Drachen. Einige
sind Männer und Frauen; Nonnen, Krieger, Kirchengelehrte. Er legt ihnen
überraschende Gegenstände in die Hände, der heiligen Ursula eine Armbrust, dem
heiligen Hieronymus eine Sense, während Piaton eine Suppenkelle trägt und
Achilles ein Dutzend Zwetschgen in einer Holzschale. Es ist sinnlos, sich mit
Hilfe banaler Gegenstände oder vertrauter Gesichter erinnern zu wollen. Man
braucht überraschende Zusammenstellungen, Bilder, die mehr oder weniger
merkwürdig, absurd oder sogar unanständig sind. Wenn man die Bilder erstellt
hat, verteilt man sie über die Welt an die Orte seiner Wahl, jedes einzelne mit
einem Bündel von Worten, von Zahlen, das sie auf Nachfrage preisgeben. In
Greenwich könnte eine kahlgeschorene Katze hinter einem Schrank sitzen und
hervorspähen; im Palast von Westminster könnte eine Schlange von einem Balken
herunterhängen und höhnisch deinen Namen zischen.
    Einige dieser Bilder sind
flach, und man kann auf ihnen herumlaufen. Einige sind mit Haut bedeckt und
gehen durch ein Zimmer, aber vielleicht sind es Männer, deren Köpfe verkehrt
herum aufgesetzt sind oder die Schwänze mit Büscheln haben wie die Leoparden auf
Wappen. Einige blicken missmutig drein wie Norfolk oder glotzen den Betrachter
verwundert an wie Mylord Suffolk. Einige sprechen, einige quaken. Er verwahrt
sie streng geordnet in der Galerie vor seinem geistigen Auge.
    Aus diesem Grund - weil er
daran gewöhnt ist, diese Bilder zu erschaffen - ist sein Kopf vielleicht auch
mit den Gestalten aus tausend Stücken, zehntausend Possen bevölkert. Vielleicht
tendiert er aus dieser Gewohnheit heraus dazu, seine tote Frau zu erblicken,
wie sie im Schacht eines Treppenhauses lauert und das weiße Gesicht nach oben
wendet oder in Austin Friars oder dem Haus in Stepney um eine Ecke huscht. Nun
beginnt dieses Bild mit dem ihrer Schwester Johane zu verschmelzen, und alles,
was zu Liz gehörte, beginnt, zu Johane zu gehören: das halbe Lächeln, der
fragende Blick, die Art ihrer Nacktheit. Bis er sagt: Genug, und sie aus seinem
Kopf vertreibt.
    Rafe reitet nach Norden und
bringt Wolsey Botschaften, die zu geheim sind, um sie in Briefen zu übermitteln.
Er würde selbst gehen, aber er kann nicht fort - auch wenn das Parlament
vertagt ist -, weil er Angst davor hat, was über Wolsey gesagt werden könnte,
wenn er nicht zu seiner Verteidigung da ist; zudem könnten der König oder auch
Lady Anne kurzfristig nach ihm verlangen. »Und obgleich ich nicht in Person bei
Ihnen bin«, schreibt er, »seien Sie versichert, dass ich im Herzen, im Geist,
im Gebet und Dienst bei Ihro Gnaden bin und mein ganzes Leben lang sein werde
...«
    Der Kardinal antwortet: Er ist
»meine gute, getreue und sichere Zuflucht in diesem meinem Unglück«. Er ist
»mein überaus geliebter Cromwell«.
    Der Kardinal schreibt und
bittet um Wachteln. Er schreibt und bittet um Blumensamen. »Samen?«, sagt
Johane. »Will er Wurzeln schlagen?«
    Die Dämmerung trifft den König
melancholisch an. Es ist ein weiterer Tag des Rückschritts in seinem Vorhaben,
noch einmal Ehemann zu werden; er leugnet natürlich, dass er mit der Königin
verheiratet ist. »Cromwell«, sagt er, »ich muss einen Weg finden, in den
Besitz dieser ...« Er blickt zur Seite, möchte nicht sagen, was er meint. »Ich
verstehe, dass es rechtliche Schwierigkeiten gibt. Ich gebe nicht vor, sie zu
verstehen. Und bevor Sie anfangen - ich möchte sie nicht erklärt bekommen.«
    Der Kardinal hat seinem
College in Oxford wie auch der Schule in Ipswich Land überschrieben, das ein
ständiges Einkommen hervorbringt. Henry will ihr Silber und ihr Gold, die
Bibliotheken, die jährlichen Einkünfte und das Land, das diese Einkünfte
erzeugt; und er sieht

Weitere Kostenlose Bücher