Mantel, Hilary
er
den Kardinal zurückholen wird.«
Cranmer betrachtet eingehend
sein Gesicht. »Ich fürchte, das ist inzwischen nicht mehr möglich.«
Er spürt den Wunsch zu
sprechen, auszudrücken, was er empfindet: die aufgestaute Wut und den Schmerz.
Er sagt: »Man hat sich Mühe gegeben, Missverständnisse zwischen uns zu
schaffen. Den Kardinal davon zu überzeugen, dass ich nicht in seinem Interesse
arbeite, sondern nur in meinem eigenen, dass ich gekauft wurde, dass ich Anne
jeden Tag sehe ...«
»Natürlich, sie sehen Sie ja
auch ...«
»Wie soll ich sonst erfahren,
was als Nächstes kommt? Mylord kann nicht wissen, kann nicht verstehen, wie es
jetzt hier zugeht.«
Cranmer sagt sanft: »Sollten
Sie nicht zu ihm gehen? Ihre Gegenwart würde jeden Zweifel zerstreuen.«
»Dazu ist es zu spät. Die
Falle für ihn ist aufgestellt, und ich kann es nicht riskieren, mich zu
entfernen.«
Kälte liegt in der Luft; die
Sommervögel sind fortgeflogen, und schwarz geflügelte Juristen versammeln sich
für die neue Sitzungsperiode auf dem Gelände von Lincolns und von Gray's Inn.
Die Jagdsaison - oder zumindest die Saison, in der der König jeden Tag jagt -
wird bald vorüber sein. Was immer anderswo passiert, welche Täuschungen und
Enttäuschungen auch immer, man kann sie auf dem Feld vergessen.
Der Jäger gehört zu den
unschuldigsten Menschen; für den Augenblick zu leben gibt ihm ein Gefühl der
Reinheit. Wenn er abends von der Jagd zurückkehrt, schmerzt sein Körper, im
Kopf hat er Bilder von Blättern und vom Himmel; er will keine Dokumente lesen.
Seine Qualen, seine Ratlosigkeit sind gewichen und bleiben auch fort, vorausgesetzt,
dass er - nach Essen und Wein, Lachen und Geschichtenerzählen - im Morgengrauen
aufsteht und alles wieder genauso macht.
Der Winterkönig jedoch ist
weniger beschäftigt und wird anfangen, über sein Gewissen nachzudenken. Er wird
anfangen, über seinen Stolz nachzudenken. Er wird anfangen, die Belohnungen für
jene zu ersinnen, die ihm Resultate liefern.
Es ist ein Herbsttag,
weißliches Sonnenlicht flirrt durch die flimmernden, sich langsam von den
Ästen lösenden Blätter. Sie gehen zum Schießstand. Der König tut gern mehrere
Dinge auf einmal: sprechen, Pfeile auf ein Ziel schießen. »Hier sind wir
allein«, sagt er, »und ich kann Ihnen meine Gedanken eröffnen.«
In Wirklichkeit sind sie von
so vielen Personen umgeben, dass sie für die Bevölkerung eines kleinen Dorfes
reichen würden - Aslockton zum Beispiel. Der König weiß nicht, was »allein«
bedeutet. Ist er jemals ganz für sich, selbst in seinen Träumen? »Allein«
bedeutet in diesem Fall, ohne dass Norfolk hinter ihm hertrampelt. »Allein«
bedeutet ohne Charles Brandon, dem der König in einem sommerlichen Wutanfall
mitgeteilt hat, er solle verschwinden und dem Hof in einem Umkreis von fünfzig
Meilen fernbleiben. »Allein« bedeutet nur mit meinem königlichen Beauftragten
fürs Bogenschießen und dessen Untergegebenen, allein mit meinen Kammerherren,
die meine auserwählten und persönlichen Freunde sind. Zwei dieser Herren
schlafen am Fuß seines Bettes, es sei denn, er ist bei der Königin; das
bedeutet wiederum, sie haben jetzt schon jahrelang ununterbrochen Dienst getan.
Als er Henry seinen Bogen
spannen sieht, denkt er: Jetzt sehe ich, dass er königlich ist. Ob zu Hause
oder in der Ferne, in Kriegszeiten oder im Frieden, glücklich oder gekränkt,
der König liebt es, mehrmals pro Woche zu üben, wie es ein Engländer tun
sollte; er nutzt seine Größe aus, seine schönen, trainierten Muskeln an Armen,
Schultern und Brust, und befördert seine Pfeile auf direktem Wege ins Zentrum
der Zielscheibe. Dann streckt er den Arm aus, damit ihm jemand den königlichen
Armschutz ab- und wieder festschnallt, damit ihm jemand den Bogen abnimmt und
eine neue Auswahl bringt. Ein unterwürfiger Sklave reicht ihm ein Tuch, damit
er sich die Stirn abwischen kann, und hebt es dort auf, wo der König es fallen
lässt; und dann, nachdem ein oder zwei Schüsse danebengegangen sind, schnipst
der König von England verärgert mit den Fingern, damit Gott den Wind dreht.
Der König ruft: »Aus verschiedenen
Ecken erhalte ich den Rat, dass ich meine Ehe in den Augen des christlichen
Europa als aufgelöst betrachten und mich neu verheiraten soll, wie es mir
beliebt. Und das bald.«
Er ruft nichts zurück.
»Andere jedoch sagen ...« Der
Wind trägt seine Worte fort - in Richtung Europa.
»Ich bin einer der anderen.«
»Mein
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