Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Woelffe
Vom Netzwerk:
wurde, auf flachen Feldern, unter einem weiten Himmel,
konnte man sich gerade noch bis Cambridge denken: weiter nicht.
    »Einem Mann aus meinem
College«, sagt Dr Cranmer zögernd, »hat der Kardinal erzählt, dass Sie als
Säugling von Piraten geraubt wurden.«
    Er starrt seinen Gast einen
Augenblick an, dann lächelt er mit verhaltener Freude. »Wie sehr ich meinen
Herrn doch vermisse! Jetzt, wo er nach Norden gegangen ist, gibt es niemanden
mehr, der mich neu erfindet.«
    Dr Cranmer, vorsichtig: »Dann
ist es nicht wahr? Denn ich habe mich schon gefragt, ob Sie überhaupt getauft
wurden. Ich habe befürchtet, das könnte bei so einem Vorkommnis fraglich sein.«
    »Aber das Ganze hat sich nie
zugetragen. Wirklich. Die Piraten hätten mich übrigens auch zurückgegeben.«
    Dr Cranmer runzelt die Stirn.
»Sie waren ein wildes Kind?«
    »Wenn wir uns damals gekannt
hätten, hätte ich Ihren Schulmeister für Sie zusammengeschlagen.«
    Cranmer hat aufgehört zu essen
- nicht dass er viel zu sich genommen hätte. Er denkt, in einem Winkel seines
Bewusstseins wird dieser Mann immer glauben, dass ich Heide bin, ich werde ihn
nie mehr davon abbringen. Er sagt: »Vermissen Sie Ihre Studien? Ihr Leben hat
sich verändert, seit der König Sie zum Botschafter gemacht hat und Sie auf
hoher See durchgeschaukelt wurden.«
    »Als  ich aus Spanien
zurückkam, mussten wir in der Biskaya das Wasser aus dem Schiff schöpfen. Ich
habe den Seeleuten die Beichte abgenommen.«
    »Da muss es ja was zu hören
gegeben haben.« Er lacht. »Sie haben vermutlich geschrien, um den Sturm zu
übertönen.«
    Nach dieser anstrengenden
Reise wäre Cranmer vielleicht in sein altes Leben zurückgekehrt - obwohl der
König mit dem Ergebnis seiner Mission zufrieden war -, hätte er nicht Gardiner
getroffen und flüchtig erwähnt, dass man die europäischen Universitäten zum
Fall des Königs befragen könne. Sie haben es bei den Spezialisten des kanonischen
Rechts versucht; versuchen Sie es jetzt bei den Theologen. Warum nicht?, sagte
der König; bringen Sie mir Dr Cranmer und betrauen Sie ihn damit. Der Vatikan
ließ ausrichten, er habe nichts gegen diese Idee, nur dass man den Theologen
kein Geld anbieten solle: ein amüsanter Vorbehalt eines Papstes mit dem
Nachnamen de' Medici. Ihm erscheint diese Initiative so gut wie zwecklos - aber
er denkt an Anne Boleyn, er denkt daran, was ihre Schwester gesagt hat: Sie
wird nicht jünger. »Sehen Sie, Sie haben hundert Gelehrte an zwanzig
Universitäten gefunden, und einige sagen, dass der König recht hat...«
    »Die meisten ...«
    »Und wenn Sie noch zweihundert
finden, was macht das schon aus? Clemens lässt sich wohl kaum noch überzeugen.
Das Einzige, was helfen wird, ist Druck. Und ich meine keinen moralischen
Druck.«
    »Aber es ist nicht Clemens,
den wir in dieser Sache überzeugen müssen. Es ist ganz Europa. Alle Männer der
Christenheit.«
    »Ich befürchte, dass die
Frauen der härtere Brocken sind.«
    Cranmer schlägt die Augen
nieder. »Ich konnte meine Frau nie von etwas überzeugen. Ich wäre gar nicht auf
den Gedanken gekommen, es zu versuchen.« Er macht eine Pause. »Wir sind beide
Witwer, glaube ich, Master Cromwell, und wenn wir Kollegen werden, darf ich Sie
nicht im Unklaren lassen oder den Geschichten überantworten, die irgendwelche
Leute Ihnen erzählen.«
    Das Licht um sie herum
schwindet, während er spricht, und seine Stimme - jedes Murmeln, jedes Stocken
- verliert sich in der Dämmerung. Außerhalb des Raums, in dem sie sitzen,
folgen die Bewohner des Hauses ihrer abendlichen Routine; auf einmal ertönt ein
Krachen und ein Schaben, als würden Möbelstücke bewegt, dazu leises Jubeln und
Jauchzen. Aber er ignoriert es und konzentriert sich auf den Priester. Joan,
eine Waise, sagt dieser, Dienstmädchen im Haus eines Gentleman, in dem er
verkehrte; keine Angehörigen, keine Mitgift; er hatte Mitleid mit ihr.
Geflüster in einem getäfelten Raum weckt die Geister im Moor auf, holt die
Toten herbei: das Zwielicht von Cambridge, Feuchtigkeit, die von den Sümpfen
hereinkommt, und Binsenlichter, die in einem kahlen, ausgefegten Raum brennen,
wo ein Liebesakt stattfindet. Ich konnte nicht umhin, sie zu heiraten, sagt Dr
Cranmer, und in der Tat, wie kann ein Mann umhin zu heiraten? Sein College kündigte
ihm die Mitgliedschaft, natürlich, man kann als Fellow nicht verheiratet sein.
Und natürlich musste sie ihre Stellung verlassen, und weil er nicht wusste,
wohin mit ihr, brachte er

Weitere Kostenlose Bücher