Mantel, Hilary
Höflichkeit so unerschütterlich
ist.
Zu Hause kommt Jo zu ihm und
sieht verwirrt aus. Sie ist jetzt eine junge Dame mit dem Stirnrunzeln einer
Frau und einer weichen Falte auf der Stirn, wie sie Johane, ihre Mutter, auch
hat. »Sir, wie sollen wir unsere Eier zu Ostern bemalen?«
»Wie habt ihr sie letztes Jahr
bemalt?«
»Bis jetzt haben wir ihnen
immer einen Kardinalshut aufgemalt.« Sie beobachtet sein Gesicht, um die
Wirkung ihrer Worte herauszulesen; genau das ist auch seine Gewohnheit, und er
denkt: Nicht nur unsere Kinder sind unsere Kinder. »War das falsch?«
»Auf gar keinen Fall. Ich
wünschte, ich hätte es gewusst. Ich hätte ihm eines gebracht. Das hätte ihm
gefallen.«
Jo legt ihre weiche kleine
Hand in seine. Es ist noch eine Kinderhand, über den Knöcheln zerschrammt, mit
abgekauten Nägeln. »Ich gehöre jetzt zum Rat des Königs«, sagt er. »Ihr könnt
Kronen malen, wenn ihr mögt.«
Dieser Wahnsinn mit ihrer
Mutter, dieser fortlaufende Wahnsinn, er muss beendet werden. Johane weiß es
auch. Früher erfand sie Vorwände, um da sein zu können, wo er war. Jetzt aber
ist sie, wenn er in Austin Friars ist, in dem Haus in Stepney.
»Mercy weiß es«, flüstert sie
im Vorübergehen.
Erstaunlich ist nur, dass
Mercy so lange gebraucht hat, aber daraus ist eine Lehre zu ziehen; du glaubst,
alle beobachten dich ständig, aber es ist nur das Schuldgefühl, das dich dazu
bringt, vor Schatten zu erschrecken. Aber schließlich hat Mercy festgestellt,
dass sie Augen im Kopf hat und eine Zunge zum Sprechen, und sie wählt einen
Zeitpunkt, als sie allein sein können. »Ich habe gehört, dass der König eine
Möglichkeit gefunden hat, zumindest einen der Stolpersteine aus dem Weg zu
räumen. Ich meine die Schwierigkeit, Lady Anne heiraten zu können, obwohl ihre
Schwester Mary in seinem Bett gelegen hat.«
»Wir haben den allerbesten Rat
eingeholt«, sagt er schnell. »Auf meine Empfehlung hin hat Dr Cranmer sich an
eine Gruppe gelehrter Rabbiner in Venedig gewendet, um ihre Meinung zur
Bedeutung der alten Texte einzuholen.«
»Als o ist es kein Inzest? Es
sei denn, man war tatsächlich mit der einen Schwester verheiratet?«
»Die Geistlichen sagen nein.«
»Wie viel hat das gekostet?«
»Das weiß Dr Cranmer gar
nicht. Die Priester und Gelehrten setzen sich an den Verhandlungstisch, und
anschließend kommt ein weniger frommer Mann mit einem Sack voll Geld. Sie
treffen ihn gar nicht, weder beim Hineingehen noch beim Herauskommen.«
»In deinem Fall ist das kaum
eine Hilfe«, sagt sie unverblümt.
»Es gibt keine Hilfe in meinem
Fall.«
»Sie möchte mit dir sprechen.
Johane.«
»Was gibt es da zu sagen? Wir
wissen alle ...« Wir wissen alle, dass es nirgendwohin führen kann. Selbst wenn
ihr Mann John Williamson immer noch hustet: Immer horcht man halb darauf, hier
und in Stepney, auf dieses ankündigende Keuchen auf einer Treppe oder im Zimmer
nebenan; eins muss man ihm lassen, John Williamson: Er kommt nie überraschend.
Dr Butts hat ihm Landluft empfohlen, denn er soll sich von Rauch und Dämpfen
fernhalten. »Es war ein Augenblick der Schwäche«, sagt er. Und dann... was?
Noch ein Augenblick der Schwäche. »Gott sieht alles. So sagt man.«
»Du musst ihr zuhören.« Mercy
dreht sich noch einmal um, und ihr Gesicht glüht. »Das schuldest du ihr.«
»Mir scheint es so, dass es
wie ein Stück Vergangenheit ist.« Johanes Stimme zittert; ihre Finger zupfen an
ihrer Halbmondhaube, rücken sie zurecht und ziehen den Schleier, eine Wolke aus
Seide, über die eine Schulter. »Lange Zeit habe ich nicht geglaubt, dass Liz
wirklich fort ist. Ich habe erwartet, sie eines Tages hereinkommen zu sehen.«
Es war eine beständige
Versuchung für ihn, Johane schön angezogen zu sehen, und er ist ihr begegnet,
indem er den Londoner Goldschmieden und Seidenhändlern das Geld, wie Mercy
sagt, in den Rachen geworfen
hat, sodass die Frauen von Austin Friars bei den Ehefrauen der City als
Inbegriff der Eleganz gelten. Hinter vorgehaltener Hand (aber mit andächtigem
Flüstern, fast einem Kniefall) sagen sie: Du meine Güte, Thomas Cromwell
scheint das Geld zuzufliegen wie die Gnade Gottes.
»Deshalb glaube ich jetzt«,
sagt sie, »dass das, was wir getan haben, weil sie tot war - als wir unter
Schock standen, als wir traurig waren -, dass wir das jetzt lassen müssen. Ich
meine, wir sind immer noch traurig. Wir werden immer traurig sein.«
Er versteht sie. Liz ist in
einem anderen Zeitalter
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