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Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Woelffe
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Norris«, teilt er ihr mit, bevor sie fragen
kann, »ist der Fluch meines Lebens.« Er ist immer bei Anne, fügt er nicht hinzu, wenn ich sie alleine
sprechen muss.
    »Ich würde sagen, wenn er nicht
weiß, was er zu Abend essen soll, kann er hierherkommen. Nicht dieser Henry
Norris. Ich meine unseren bedürftigen König.« Sie steht auf; sie sieht sich
selbst im Spiegel; sie weicht aus, als scheue sie vor ihrem Spiegelbild zurück,
und verändert ihren Gesichtsausdruck, sodass er leichter, wissbegieriger und
distanzierter, weniger persönlich wird; er betrachtet sie dabei, sieht, wie
sie die Augenbrauen eine Spur hochzieht, ebenso die Mundwinkel. Ich könnte sie
malen, denkt er, wenn ich das Talent dazu hätte. Ich habe sie so lange
angeschaut; aber das Anschauen bringt die Toten nicht zurück, je intensiver
man schaut, desto schneller und weiter weg gehen sie. Er hat nie geglaubt, dass
Liz Wykys mit einem Lächeln vom Himmel auf das herabsah, was er mit ihrer
Schwester getan hat. Nein, denkt er, ich habe Liz in die Dunkelheit geschoben,
das ist alles; und dann erinnert er sich an etwas, das Walter einmal gesagt
hat: dass seine Mutter ihre Gebete immer zu einer kleinen geschnitzten
Heiligenfigur sprach. Sie steckte in ihrem Bündel, als sie als junge Frau aus
dem Norden gekommen war, und sie drehte sie immer mit dem Gesicht vom Bett weg,
bevor sie sich zu ihm legte. Walter hatte gesagt: Mein Gott, Thomas, es war die
verdammte heilige Felicitas, wenn ich mich nicht irre, und ihr Gesicht war
bestimmt zur Wand gedreht in der Nacht, als ich dich gezeugt habe.
    Johane geht im Zimmer umher.
Es ist ein großer Raum, der mit Licht gefüllt ist. »All diese Sachen«, sagt
sie, »all diese Sachen, die wir jetzt haben. Die Uhr. Die neue Truhe, die du
dir von Stephen aus Flandern hast schicken lassen, die mit den geschnitzten
Vögeln und Blumen, ich habe es mit meinen eigenen Ohren gehört, wie du zu
Thomas Avery gesagt hast: Ach, sag Stephen, ich will sie haben, egal, was sie
kostet. All diese gemalten Bilder von Leuten, die wir nicht kennen, all diese,
ich weiß nicht was, diese Lauten und Notenhefte, das hatten wir früher nie; als
Mädchen habe ich mich nie im Spiegel betrachtet, aber jetzt sehe ich mich jeden
Tag. Und einen Kamm, du hast mir einen Elfenbeinkamm geschenkt. Ich hatte nie
einen eigenen. Liz hat mir immer die Haare geflochten und unter die Haube
geschoben, und dann habe ich es bei ihr gemacht, und wenn wir nicht aussahen,
wie wir aussehen sollten, hat uns das ganz schnell jemand gesagt.«
    Warum hängen wir so an den
Härten der Vergangenheit? Warum sind wir so stolz darauf, dass wir unsere Väter
und unsere Mütter ertragen haben, die Tage ohne Feuer und die Tage ohne
Fleisch, die harten Winter und die scharfen Zungen? Wir hatten doch gar keine
Wahl. Selbst Liz... als sie beide jung waren, hatte sie einmal gesehen, wie er
früh am Morgen Gregorys Hemd zum Anwärmen vors Feuer gelegt hatte, selbst Liz
hatte scharf gesagt: Mach das nicht, sonst wird er es jeden Tag wollen.
    Er sagt: »Liz - ich meine,
Johane ...«
    Das war einmal zu oft, sagt
ihr Gesicht.
    »Ich möchte gut zu dir sein.
Sag mir, was ich dir schenken kann.«
    Er wartet darauf, dass sie
schimpft, wie es Frauen tun: Glaubst du, du kannst mich kaufen?, aber sie tut
es nicht, sie hört zu, und er glaubt, sie ist gefesselt, ihr Gesicht ist
aufmerksam, ihre Augen blicken in seine, als sie seine Theorie hört, was man
mit Geld kaufen kann. »In Florenz gab es einen Mann, einen Mönch, Fra
Savonarola, der die Menschen dazu brachte zu glauben, Schönheit sei eine Sünde.
Manche meinen, er war ein Zauberer und hielt die Leute für eine Saison in
seinem Bann, denn sie machten Feuer auf den Straßen und warfen alles hinein,
was sie gerne hatten, Dinge, die sie hergestellt oder für die sie gearbeitet
hatten: Seidenballen und Wäsche, die ihre Mütter für ihre Ehebetten bestickt
hatten, Bücher mit Gedichten, die der Dichter persönlich aufgeschrieben hatte,
Schuldverschreibungen und Testamente, Mietverträge, Grundeigentumsurkunden,
Hunde und Katzen, die Hemden, die sie auf dem Leib trugen, die Ringe von ihren
Fingern, Frauen warfen ihre Schleier hinein. Und weißt du, was am schlimmsten
war, Johane? Sie warfen auch ihre Spiegel ins Feuer. Dann konnten sie ihre
Gesichter nicht mehr sehen und erkennen, was sie von den Tieren auf dem Feld
unterschied und von den Kreaturen, die auf dem Scheiterhaufen brüllten. Und
als ihre Spiegel zerschmolzen waren, kehrten

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