Mantel, Hilary
Junge blickt ihm ins Gesicht. Einen
Augenblick lang wirkt er erschrocken, es sieht aus, als wolle er etwas sagen,
dann senkt er den Blick und wendet den Kopf ab.
»Ich quäle dich nur ein
bisschen, Tom, nimm's dir nicht zu Herzen.« Er liest Tyndales Brief. »Wenn sie
ein gutes Mädchen ist und zu Stephens Haushalt gehört, was soll daran schlimm
sein?«
»Was sagt Tyndale?«
»Du hast den Brief
mitgenommen, ohne ihn zu lesen?«
»Ich wollte es lieber nicht
wissen. Für den Fall der Fälle.«
Für den Fall, dass du
plötzlich bei Thomas More zu Gast gewesen wärst. Er hält den Brief in der
linken Hand, seine rechte ballt sich locker zur Faust. »Er soll es nur wagen,
meinen Leuten zu nahe zu kommen. Dann zerre ich ihn aus seinem Sitzungssaal in
Westminster und schlage seinen Kopf auf die Kopfsteine, bis er zur Vernunft kommt
und versteht, was Gottesliebe eigentlich bedeutet.«
Der Junge grinst und lässt
sich auf einen Hocker fallen. Er, Cromwell, sieht wieder auf den Brief.
»Tyndale glaubt, er kann niemals zurückkommen, selbst wenn Mylady Anne Königin
wäre ... ein Projekt, bei dessen Verwirklichung er in keiner Weise hilft, muss
ich sagen. Er schreibt, er würde einem sicheren Geleit nicht trauen, auch wenn
der König selbst es unterschreiben sollte, nicht, solange Thomas More am Leben
und im Amt ist, weil More sagt, ein Versprechen, das man einem Ketzer gegeben
hat, braucht man nicht zu halten. Hier. Du kannst es selbst lesen. Unser
Lordkanzler erkennt weder Unwissen noch Unschuld an.«
Der Junge zögert, aber er
nimmt das Papier. Was ist das für eine Welt, in der Versprechen nicht gehalten
werden? Er sagt sanft: »Erzähl mir, wer Jenneke ist. Möchtest Du, dass ich für
dich an ihren Vater schreibe?«
»Nein.« Avery sieht
erschrocken auf; er runzelt die Stirn. »Nein, sie ist Waise. Master Vaughan
kommt für ihren Unterhalt auf. Wir bringen ihr alle Englisch bei.«
»Als o bringt sie kein Geld
mit?«
Der Junge sieht verwirrt aus.
»Ich vermute, Stephen wird ihr eine Mitgift geben.«
Der Tag ist zu mild für ein
Feuer. Und es ist zu früh für eine Kerze. Anstatt Tyndales Botschaft zu verbrennen,
reißt er sie in Stücke. Marlinspike kaut mit gespitzten Ohren auf einem Fetzen
herum. »Bruder Kater«, sagt er. »Er hat die Schriften schon immer geliebt.«
Scriptum sola. Nur das Evangelium leitet und
tröstet dich. Zwecklos, zu einem geschnitzten Pfahl zu beten oder vor einem
gemalten Gesicht eine Kerze anzuzünden. Tyndale sagt, gospel heißt gute Botschaft, es heißt
Singen, es heißt Tanzen: in Grenzen, versteht sich. Thomas Avery sagt: »Kann
ich wirklich im nächsten Frühling nach Hause kommen?«
John Petyt im Tower erhält die
Erlaubnis, in einem Bett zu schlafen: aber keine Chance, dass er nach Hause zum
Lion's Quay darf.
Cranmer hat eines Nachts, als
sie sich lange unterhielten, zu ihm gesagt: Der heilige Augustinus sagt, wir
brauchen nicht zu fragen, wo unser Zuhause ist, weil wir am Ende alle nach
Hause zu Gott kommen.
Die Fastenzeit zehrt an den
Kräften, was natürlich ihr Sinn und Zweck ist. Als er Anne wieder aufsucht,
findet er den Jungen Mark vor, der über seiner Laute kauert und etwas Trübseliges
zupft; er schnipst mit dem Finger an seinen Kopf, als er vorbeischlendert, und
sagt: »Etwas munterer, bitte.«
Mark fällt fast von seinem
Hocker. Für ihn, Cromwell, scheinen sie wie betäubt zu sein, diese Leute,
ständig auf der Hut vor einem Schreck oder einem Hinterhalt. Anne erwacht aus
ihrem Traum und sagt: »Was haben Sie da gerade gemacht?«
»Mark geschlagen. Nur« - er
zeigt es - »mit dem Finger.«
Anne sagt: »Mark? Wen? Oh.
Heißt er so?«
In diesem Frühling, 1531,
macht er es zu seinem Anliegen, fröhlich zu sein. Der Kardinal war ein großer
Nörgler, aber er nörgelte immer auf unterhaltsame Weise. Je heftiger er sich
beklagte, desto fröhlicher wurde sein Mann Cromwell; das war das Arrangement.
Der König ist auch einer, der
sich beklagt. Er hat Kopfschmerzen. Der Herzog von Suffolk ist dumm. Es ist zu
warm für die Jahreszeit. Das Land geht vor die Hunde. Er macht sich auch
Sorgen, hat Angst vor Zaubersprüchen und davor, dass die Leute in allgemeiner
oder spezieller Hinsicht schlecht von ihm denken. Je besorgter der König ist,
desto gelassener wird sein neuer Diener, desto optimistischer, desto zuverlässiger.
Und je mehr der König mäkelt und meckert, desto häufiger suchen die Leute mit
ihren Anliegen Cromwell auf, dessen liebenswürdige
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