Mantel, Hilary
»Er ist erst seit einem Jahr
fort, Thomas. Mir erscheint es länger. Es heißt, wenn man ein alter Mann ist,
ist ein Jahr wie das andere. Ich kann Ihnen versichern, dass es nicht stimmt.«
Oh, kommen Sie, Sir, rufen die
kleinen Mädchen, Sie sind doch nicht so alt, dass Sie keine Geschichte erzählen
können. Sie ziehen ihn zu einem der neuen Samtsessel und setzen ihn auf den
Thron. Alle würden Sir Henry zum Vater haben wollen, wenn sie die Wahl hätten,
alle zum Großvater. Er hat in der Schatzkammer dieses Henrys und des Henrys vor
ihm gedient; wenn die Tudors arm sind, so hat er keine Schuld daran.
Alice und Jo waren draußen im
Garten und haben versucht, die Katze einzufangen. Sir Henry hat es gerne, wenn
eine Katze im Haushalt geehrt wird; auf Bitten der Kinder erklärt er, warum.
»Es geschah einmal«, beginnt
er, »dass sich in diesem Land England ein grausamer Tyrann mit dem Namen
Richard Plantagenet erhob ...«
»Oh, das sind böse Leute, die
so heißen«, bricht es aus Aice hervor. »Und wussten Sie, dass es immer noch
welche gibt?«
Gelächter. »Aber es ist wahr«,
ruft Aice mit lodernden Wangen.
»... und ich, euer Diener
Wyatt, der diese Geschichte erzählt, wurde von dem Tyrannen in einen Kerker
geworfen, wo ich auf Stroh schlafen musste, in einem Kerker mit nur einem
einzigen kleinen Fenster, und das Fenster war vergittert...«
Der Winter setzte ein, sagt
Sir Henry, und ich hatte kein Feuer; ich hatte kein Essen oder Wasser, denn die
Wachen hatten mich vergessen. Richard Cromwell sitzt da und hört zu, das Kinn
auf die Hand gelegt; er wechselt einen Blick mit Rafe; beide blicken ihn an,
und er macht eine kleine Geste, mildert die Schrecken der Vergangenheit. Sir
Henry, das wissen sie genau, wurde nicht im Tower vergessen. Seine Bewacher
legten ihm weiß glühende Messer ans Fleisch. Sie rissen ihm die Zähne aus.
»Nun, was sollte ich tun?«,
sagt Sir Henry. »Zu meinem Glück war mein Kerker feucht. Ich trank das Wasser,
das an der Wand nach unten rann.«
»Und was haben Sie gegessen?«,
sagt Jo. Ihre Stimme ist leise und erregt.
»Ah, jetzt kommen wir zum
besten Teil der Geschichte.« Eines Tages, sagt Sir Henry, als ich dachte, ich
würde sterben, wenn ich nichts zu essen bekäme, merkte ich, dass kein Licht
durch mein kleines Fenster fiel; und was erblickte ich, als ich aufsah? Die
Gestalt einer Katze, einer schwarzweißen Londoner Katze. »Sieh an, eine
Miezekatze«, sagte ich zu ihr, und sie miaute. Als sie das tat, ließ sie ihre
Last fallen. Und was hatte sie mir gebracht?«
»Eine Taube!«, ruft Jo.
»Entweder warst du selbst
schon im Gefängnis oder du hast diese Geschichte schon einmal gehört, mein
Fräulein.«
Die Mädchen haben vergessen,
dass er keinen Koch hat, keinen Spieß, kein Feuer; die jungen Männer schlagen
die Augen nieder und schrecken vor der bildlichen Vorstellung zurück, wie ein
Gefangener mit gefesselten Händen Unmengen von Federn ausreißt, die vor Vogelläusen
nur so wimmeln.
»Nun, die nächste Neuigkeit,
die ich vernahm, als ich auf dem Stroh lag, war das Läuten von Glocken und ein
Ruf auf den Straßen: Ein Tudor! Ein Tudor! Ohne das Geschenk der Katze hätte
ich nicht lange genug gelebt, um es zu hören oder um zu hören, wie der
Schlüssel im Schloss umgedreht wurde und König Henry persönlich rief: Wyatt,
sind Sie das? Treten Sie vor und nehmen Sie Ihre Belohnung entgegen!«
Eine verzeihliche
Übertreibung. König Henry ist nie in dieser Zelle gewesen, wohl aber König
Richard. Er war es, der das Erhitzen des Messers überwacht hatte, der mit
leicht zur Seite geneigtem Kopf zugehört hatte, als Henry Wyatt schrie, der dem
Geruch brennenden Fleisches angewidert ausgewichen und zur Seite getreten war
und dann befohlen hatte, das Messer erneut zu erhitzen und anzuwenden.
Es wird erzählt, dass der
kleine Bilney in der Nacht, bevor er verbrannt wurde, seine Finger in die
Flamme einer Kerze hielt und Jesus anrief, ihn zu lehren, wie man den Schmerz
aushielte. Es war nicht klug, sich vor dem Ereignis selbst zu verstümmeln; klug
oder nicht, daran denkt er jetzt. »Und jetzt, Sir Henry«, sagt Mercy, »müssen
Sie uns die Geschichte von dem Löwen erzählen, weil wir nicht schlafen können,
wenn wir sie nicht hören.«
»Nun, in Wirklichkeit ist das
die Geschichte meines Sohnes, er sollte hier sein.«
»Wenn er hier wäre«, sagt
Richard, »würden die Damen ihn alle mit Kulleraugen ansehen und seufzen - ja,
das würdest du, Alice - und sich
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