Mantel, Hilary
nichts aus der Geschichte von dem Löwen
machen.«
Als Sir Henry nach seiner
Haft wieder gesund war, wurde er ein mächtiger Mann bei Hofe, und ein
Bewunderer schickte ihm ein Geschenk: ein Löwenjunges. In Allington Castle zog
ich sie auf wie mein Kind, sagt er, bis sie, wie es Mädchen tun, ihren eigenen
Willen entwickelte. An einem sorglosen Tag, und die Schuld lag bei mir, kam
sie aus ihrem Käfig. Leontina, rief ich ihr zu, bleib stehen, damit ich dich zurückführen
kann! Sie aber kauerte, ganz still, und nahm mich ins Visier, und ihre Augen
brannten wie Feuer. In diesem Augenblick wurde mir klar, sagt er, dass ich
nicht ihr Vater war, wie sehr ich sie auch geliebt hatte: Ich war ihr
Abendessen.
Alice sagt, eine Hand auf dem
Mund: »Sir Henry, Sie glaubten, Ihre letzte Stunde hätte geschlagen.«
»So war es in der Tat, und so
wäre es gekommen, hätte nicht mein Sohn Thomas zufällig den Hof betreten.
Augenblicklich erkannte er meine gefährliche Lage und rief ihr zu: Leontina,
hierher zu mir, und sie wandte den Kopf. In diesem Moment, in dem ihr wütender
Blick abgelenkt war, trat ich einen Schritt zurück und noch einen. Sieh mich
an, rief Thomas. Nun, an diesem Tag war er sehr bunt gekleidet mit langen
flatternden Ärmeln und einem lockeren Gewand, in das der Wind fuhr, und weil er
blondes Haar hat, wisst ihr, das er damals lang trug, muss er wie eine Flamme
ausgesehen haben, glaube ich, eine große Flamme, die in der Sonne flackerte,
und einen Augenblick lang stand sie verwirrt da, und ich trat zurück, einen
Schritt und noch einen und noch einen ...«
Leontina dreht sich um, sie
kauert; sie lässt den Vater in Ruhe und beginnt, sich an den Sohn anzupirschen.
Man kann ihre tappenden Pfoten sehen und den Gestank des Blutes in ihrem Atem
wahrnehmen. (In der Zwischenzeit weicht er, Henry Wyatt, in kaltem Angstschweiß
zurück, weicht dorthin zurück, wo er Hilfe holen kann.) Mit seiner weichen,
bezaubernden Stimme, in liebevollem Gemurmel, im Tonfall des Gebets spricht Tom
Wyatt mit der Löwin, bittet den heiligen Franziskus, ihr grausames Herz für
die Gnade zu öffnen. Leontina schaut zu. Sie hört zu. Sie öffnet den Mund. Sie
brüllt. Was sagt sie?
Pass
auf, gibt Acht, sei auf der Hut, ich wittre, rieche Britenblut.
Tom Wyatt steht so still wie
eine Statue. Stallburschen kriechen mit Netzen über den Hof. Leontina ist nur
wenige Fuß von ihm entfernt, aber noch prüft sie die Lage, lauscht. Sie richtet
sich auf, ist unsicher, ihre Ohren zucken. Er kann den rosa Geifer an ihrem
Maul sehen und ihr muffiges Fell riechen. Sie verlagert das Gewicht auf die
Hinterhand. Er spürt ihren Atem. Sie ist bereit zum Sprung. Er sieht, wie ihre
Muskeln beben, ihr Kiefer sich spannt; sie springt - aber sie dreht sich in
der Luft, als sich ein Pfeil in ihre Rippen bohrt. Sie wirbelt herum, prallt
mit dem Widerhaken im Fleisch auf, brüllt, stöhnt; ein zweiter Pfeil schlägt in
ihre kompakte Flanke ein, und als sie sich jaulend wieder umdreht, fallen die
Netze über sie. Sir Henry, der ruhig auf sie zuschreitet, platziert seinen
dritten Pfeil in ihrem Hals.
Selbst als sie stirbt, brüllt
sie. Sie hustet Blut und schlägt um sich. Einer der Stallburschen trägt bis zum
heutigen Tag die Spuren ihrer Klauen. Ihr Fell kann an der Wand in Allington
betrachtet werden. »Und ihr jungen Damen werdet kommen und mich besuchen«, sagt
Sir Henry. »Dann könnt ihr sehen, was für eine Bestie sie war.«
»Toms Gebete wurden nicht erhört«,
sagt Richard lächelnd. »Der heilige Franziskus hat nicht eingegriffen, soweit
ich das beurteilen kann.«
»Sir Henry«, Jo zieht an
seinem Ärmel, »Sie haben das Beste noch nicht gesagt.«
»Nein. Habe ich vergessen.
Nun, mein Sohn Tom, der Held des Tages, kommt davon und übergibt sich in einen
Busch.«
Die Kinder atmen aus. Alle
applaudieren. Zu jener Zeit war die Geschichte an den Hof gelangt und hatte
den König - damals war er jünger und sanftmütiger gewesen - ein wenig
eingeschüchtert. Selbst jetzt noch nickt er, wenn er Tom sieht, und murmelt vor
sich hin: »Tom Wyatt. Er kann Löwen zähmen.«
Als Sir Henry, der Beerenobst
mag, ein paar dicke Brombeeren mit gelber Sahne gegessen hat, sagt er: »Ein
Wort unter vier Augen«, und sie ziehen sich zurück. Wenn ich an Ihrer Stelle
wäre, sagt Sir Henry, würde ich ihn bitten, mich zum Verwahrer der Kronjuwelen
zu machen. »Als ich diesen Posten hatte, stellte ich fest, dass man so einen Überblick
über die
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