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Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Woelffe
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scheint eher etwas zu sein, das Sie tun würden, Master Cromwell.«
     
    Thomas More kommt nach Austin Friars. Er lehnt es ab,
etwas zu essen, er lehnt es ab, etwas zu trinken, obwohl er so aussieht, als
brauche er beides.
    Der Kardinal hätte ein solches
Nein nicht akzeptiert. Er hätte More dazu gezwungen, sich hinzusetzen und
Weinschaumcreme zu essen. Oder wenn es Erdbeerzeit gewesen wäre, hätte er ihm
einen großen Teller Erdbeeren und einen sehr kleinen Löffel gegeben.
    More sagt: »In den vergangenen
zehn Jahren haben die Türken Belgrad genommen. Sie haben ihre Lagerfeuer in
der großen Bibliothek von Buda entzündet. Es ist erst zwei Jahre her, dass sie
vor den Toren Wiens standen. Warum wollen Sie eine weitere Bresche in die
Mauern der Christenheit schlagen?«
    »Der König von England ist
kein Ungläubiger. Und ich bin es auch nicht.«
    »Ach nein? Ich weiß gar nicht,
ob Sie zu dem Gott Luthers und der Deutschen beten oder zu einem heidnischen
Gott, dem Sie auf Ihren Reisen begegnet sind, oder zu einer englischen
Gottheit, die Sie selbst erfunden haben. Vielleicht steht Ihr Glaube zum
Verkauf. Sie würden dem Sultan dienen, wenn der Preis stimmt.«
    Erasmus sagt: Hat die Natur
jemals etwas Freundlicheres, Sanfteres oder Harmonischeres geschaffen als den
Charakter Thomas Mores?
    Er schweigt. Er sitzt an
seinem Schreibtisch - More hat ihn bei der Arbeit überrascht - und hat das Kinn
auf die Fäuste gestützt. Es ist eine Pose, die ihn kämpferisch erscheinen
lässt, vermutlich zu seinem Vorteil.
    Der Lordkanzler sieht aus, als
wolle er sich die Kleider zerreißen: was diese nur verbessern könnte. Man
könnte ihn bemitleiden, aber er entscheidet sich dagegen. »Master Cromwell,
weil Sie dem Rat angehören, denken Sie, dass Sie hinter dem Rücken des Königs
mit Ketzern verhandeln können. Sie irren sich. Ich weiß von den Briefen, die
zwischen Ihnen und Stephen Vaughan hin und her gehen, ich weiß, dass er sich
mit Tyndale getroffen hat.«
    »Bedrohen Sie mich? Ich frage
das aus reinem Interesse.«
    »Ja«, sagt More traurig.
»Genau das tue ich.«
    Ihm wird klar, dass sich das
Gleichgewicht der Macht zwischen ihnen verschoben hat: nicht in ihrer
Eigenschaft als Staatsdiener, sondern als Männer.
    Als More geht, sagt Richard zu
ihm: »Das sollte er nicht tun. Drohen, meine ich. Heute kommt er wegen seines
Amtes ungeschoren davon, aber morgen, wer weiß?«
    Er denkt, ich war ein Kind,
vielleicht neun Jahre alt, ich büchste aus und lief nach London, wo ich eine
alte Frau für ihren Glauben leiden sah. Die Erinnerung strömt in seinen Körper,
und er geht, als segle er auf ihrer Flut, sagt über die Schulter: »Richard,
vergewissere dich, dass der Lordkanzler angemessenen Begleitschutz hat. Wenn
nicht, sorg dafür, dass er ihn bekommt, und versuch, ihn in ein Boot zurück
nach Chelsea zu setzen. Wir wollen nicht, dass er durch London streift und
allen eine Strafpredigt hält, an deren Tor er zufällig stehen bleibt.«
    Den letzten Teil sagt er auf
Französisch, er weiß nicht, warum. Er denkt an Anne, ihre ausgestreckte Hand,
die ihn zu sich zieht: Maitre Cremuel,á moi.
    Er kann sich nicht mehr an das
genaue Jahr erinnern, aber er erinnert sich an das Wetter. Es war Ende April,
und dicke Regentropfen sprenkelten das helle frische Grün. Er kann sich nicht
an den Grund für Walters Wut erinnern, aber er erinnert sich an die Angst, die
er im Kern seines Wesens verspürte, und an sein Herz, das heftig gegen die
Rippen pochte. Wenn er sich in jenen Tagen nicht bei seinem Onkel John in
Lambeth verstecken konnte, machte er sich in die Stadt auf und suchte Leute,
denen er sich anschließen konnte - versuchte, durch Botengänge zu den Kais oder
in die Stadt, durch das Tragen von Körben oder das Beladen von Schubkarren
einen Penny zu verdienen. Wenn man nach ihm pfiff, kam er; er hatte Glück, wie
er jetzt weiß, nicht an übles Gesindel geraten zu sein, was dazu hätte führen
können, dass er gebrandmarkt oder ausgepeitscht worden wäre, er hatte Glück,
dass er keine der kleinen Leichen war, die aus dem Fluss gefischt wurden. In
diesem Alter hat man kein Urteilsvermögen. Wenn jemand sagte, da drüben ist
was los, folgte er dem ausgestreckten Finger. Er hatte nichts gegen die alte
Frau, aber er hatte noch nie gesehen, wie jemand verbrannt wurde.
    Was hat sie verbrochen?, sagte
er, und sie sagten: Die is' von den Lollarden. Und die Lollarden sagen, dass
der Gott auf dem Altar ein Stück Brot ist. Was, sagte er,

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