Mantel, Hilary
wie soll sich ein Mann dauerhaft fernhalten?«
Diese Frage stellt sich auch
in seinem eigenen Leben; er kennt sie. Wyatt setzt sich auf einen kleinen
Hocker. Er stützt die Ellenbogen auf seine Knie. Er legt seinen Kopf in die
Hände, die Fingerspitzen an den Schläfen. Er lauscht auf seinen eigenen
Herzschlag; er denkt; vielleicht verfasst er ein Gedicht? Er sieht auf. »Mein
Vater sagt, jetzt, wo Wolsey tot ist, sind Sie der klügste Mann in England.
Deshalb können Sie vielleicht verstehen, was ich meine, auch wenn ich es nur
einmal sage? Wenn Anne keine Jungfrau ist, habe ich nichts damit zu tun.«
Er schenkt ihm ein Glas Wein
ein. »Stark«, sagt Wyatt, nachdem er ausgetrunken hat. Er starrt in die Tiefe
des Glases und auf seine eigenen Finger, die es halten. »Ich glaube, ich muss
mehr sagen.«
»Wenn Sie das müssen, sagen
Sie es hier und nur einmal.«
»Verbirgt sich jemand hinter
dem Wandbehang? Man hat mir erzählt, dass es in Chelsea Diener gibt, die Ihnen
Bericht erstatten. Heutzutage kann niemand mehr seinen Dienern vertrauen, es
gibt überall Spione.«
»Sagen Sie mir, zu welcher
Zeit es keine Spione gab«, sagt er. »Es gab ein Kind in Mores Haus, Dick
Purser, More nahm es aus schlechtem Gewissen auf, nachdem das Kind zur Waise
geworden war - ich kann nicht sagen, dass More den Vater glattweg getötet hat,
aber er hatte ihn am Pranger und im Tower, und das hat ihm die Gesundheit
geraubt. Dick hat den anderen Jungen erzählt, er glaube nicht, dass Gott in der
Abendmahlshostie sei, und deshalb ließ More ihn vor dem gesamten Haushalt
auspeitschen. Jetzt habe ich ihn hierhergebracht. Was konnte ich anderes tun?
Ich werde auch andere aufnehmen, wenn er sie misshandelt.«
Lächelnd streicht Wyatt mit
der Hand über die Königin von Saba: soll heißen, über Anselma. Der König hat
ihm Wolseys schönen Gobelin geschenkt. Anfang des Jahres, als er in Greenwich
war, um mit Henry zu sprechen, sah dieser, wie er zur Begrüßung zu ihr
hinaufblickte, und fragte ihn mit einem lächelnden Seitenblick: Kennen Sie
diese Frau? Früher einmal, hatte er geantwortet, hatte es erklärt, hatte sich
entschuldigt; der König sagte: Nicht von Bedeutung, wir waren alle mal jung und
leichtsinnig, und man kann nicht jede heiraten, habe ich recht? Dann fügte er
mit leiser Stimme hinzu: Mir ist so, als hätte dieser Gobelin dem Kardinal von
York gehört. Und dann, energischer: Wenn Sie nach Hause kommen, suchen Sie
einen Platz für sie aus; ich finde, sie sollte mitgehen und bei Ihnen leben.
Er nimmt sich selbst ein Glas
Wein und schenkt auch Wyatt nach, sagt: »Gardiner hat Leute vor dem Tor, die
beobachten, wer hier ein und aus geht. Es ist ein Stadthaus, keine Festung -
aber wenn Personen auftauchen, die nicht hier sein sollten, macht es meinem
Haushalt Freude, sie vor die Tür zu setzen. Wir kämpfen gerne. Ich würde meine
Vergangenheit lieber hinter mir lassen, aber das erlaubt man mir nicht. Onkel
Norfolk erinnert mich immer wieder daran, dass ich ein gemeiner Soldat war,
und das nicht einmal in seiner Armee.«
»So nennen Sie ihn?« Wyatt
lacht. »Onkel Norfolk?«
»Unter uns. Aber ich brauche
Sie nicht daran zu erinnern, was den Howards ihrer Ansicht nach zusteht. Sie
sind als Thomas Boleyns Nachbar aufgewachsen, und deshalb muss Ihnen klar
sein, dass Sie ihn nicht verärgern dürfen, was auch immer Sie für seine Tochter
empfinden. Ich hoffe doch, Sie empfinden nichts - oder?«
»Zwei Jahre lang«, sagt Wyatt,
»machte der Gedanke, dass ein anderer Mann sie berühren würde, meine Seele
krank. Aber was hatte ich anzubieten? Ich bin ein verheirateter Mann, und auch
nicht der Herzog oder Prinz, den sie sich angeln wollte. Sie mochte mich,
glaube ich, oder sie mochte meine uneingeschränkte Ergebenheit, das hat sie amüsiert.
Wenn wir allein waren, erlaubte sie mir, sie zu küssen, und ich dachte immer...
aber das ist Annes Taktik, wissen Sie, sie sagt ja, ja, ja, und dann sagt sie
nein.
»Und Sie sind natürlich ein
echter Gentleman.«
»Was, hätte ich sie
vergewaltigen sollen? Wenn Sie stopp sagt, meint sie stopp - Henry weiß das.
Aber dann kam ein anderer Tag, und wieder ließ sie sich von mir küssen. Ja,
ja, ja, nein. Das Schlimmste daran sind ihre Andeutungen, sie prahlt beinahe
damit, dass sie nein zu mir sagt, aber ja zu anderen ...«
»Und die sind?«
»Ach, Namen, Namen würden ihr
die Kurzweil verderben. Es ist darauf angelegt, dass man bei jedem Mann, den
man bei Hofe oder in Kent sieht, ins
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