Mantel, Hilary
könnte meinen,
sie wären bereits Mann und Frau und hätten eine wohlige Nacht voller ehelicher
Freuden vor sich. Man könnte es meinen, nur dass er Mary Boleyns Wort hat, dass
das Marquisat Henry lediglich das Recht eingebracht hat, die Innenseite des
Oberschenkels ihrer Schwester zu streicheln. Mary erzählt ihm das - und das
nicht einmal auf Lateinisch. Wann immer Anne mit dem König allein war,
erstattet sie ihren Angehörigen Bericht und lässt keine Einzelheit aus. Man
muss sie bewundern; ihre kühle Genauigkeit, ihre Beherrschung. Sie benutzt
ihren Körper wie ein Soldat, bewahrt seine Ressourcen; wie ein Lehrer in der
Anatomieschule von Padua teilt sie ihn auf und benennt jeden Teil: dies ist
mein Oberschenkel, dies meine Brust, dies meine Zunge.
»Vielleicht in Calais«, sagt
er. »Vielleicht bekommt er dort, was er will.«
»Sie muss sicher sein.« Mary
geht fort. Sie bleibt stehen, kommt zurück, Beunruhigung im Gesicht. »Anne
sagt: Cromwell ist mein Mann. Mir gefällt es nicht, wenn sie das sagt.«
In den folgenden Tagen kommen
weitere Fragen auf, die die englische Seite quälen. Welche königliche Dame
wird Annes Gastgeberin sein, wenn sie die Franzosen treffen? Königin Eleonore
wird es nicht sein - das kann man nicht erwarten, da sie die Schwester des
Kaisers ist, und die Gefühle der Familie sind verletzt, weil seine Ungnaden Katherine
verlassen hat. Francois' Schwester, die Königin von Navarra, schiebt lieber
eine Krankheit vor, als dass sie die Geliebte des Königs von England empfängt.
»Ist es dieselbe Krankheit, an der die arme Herzogin von Suffolk leidet?«,
fragt Anne. Vielleicht, schlägt Francois vor, wäre es angemessen, wenn die
Dame, die jetzt Marquess von Pembroke ist, durch die Herzogin von Vendome
begrüßt würde, seiner eigenen maitresse en titre! Henry ist so böse, dass er
Zahnschmerzen bekommt. Dr Butts kommt mit seiner Truhe voller Spezifika. Ein
Narkotikum scheint das freundlichste Heilmittel zu sein, aber als der König
erwacht, ist er immer noch so verärgert, dass es ein paar Stunden lang keine
andere Lösung zu geben scheint, als die ganze Expedition abzusagen. Können sie
nicht verstehen, können sie nicht begreifen, dass Anne niemandes Mätresse ist,
sondern die zukünftige Braut eines Königs? Aber das zu begreifen, liegt nicht
in Francois' Natur. Er würde niemals länger als eine Woche auf eine Frau
warten, die er begehrt. Ein Muster an Ritterlichkeit, er? Allerchristlichster
König? Der kann doch nichts, bellt Henry, als brunften wie ein Hirsch. Aber ich
sage euch, wenn seine Brunft vorbei ist, werden die anderen Hirsche ihn
besiegen. Da kann man jeden Jäger fragen!
Am Ende bietet sich als Lösung
an, dass die zukünftige Königin in Calais zurückbleiben wird, mithin auf
englischem Boden, wo sie keinen Beleidigungen ausgesetzt ist, während der
König sich mit Francois in Boulogne trifft. Calais, eine kleine Stadt, sollte
einfacher in Schach zu halten sein als London, selbst wenn sich am Hafen Leute
aufstellen, um »Putain!« und »Große Hure von England« zu rufen. Wenn sie obszöne Lieder singen,
weigern wir uns einfach, sie zu verstehen.
In Canterbury füllen der Tross
des Königs und dazu noch die Pilger aus allen Nationen jedes Haus vom Keller
bis zum Dach. Er und Rafe werden einigermaßen komfortabel in der Nähe des
Königs untergebracht, aber es kommt vor, dass Lords in verlausten Gasthöfen
und Ritter in den Hinterzimmern von Bordellen bleiben müssen, Pilger gezwungen
sind, in Ställen und Nebengebäuden oder im Freien unter den Sternen zu
schlafen. Zum Glück ist das Wetter mild für Oktober. In jedem anderen Jahr vor
diesem hätte der König Beckers Schrein aufgesucht, um dort zu beten und eine
großzügige Spende zu hinterlassen. Aber Becket war ein Rebell gegen die Krone,
nicht die Art von Erzbischof, die wir im Moment bestärken möchten. In der
Kathedrale hängt noch der Weihrauch von Warhams Bestattung in der Luft, und
Gebete für seine Seele verursachen ein unablässiges Brummen wie das Summen von
tausend Bienenstöcken. An Cranmer sind Briefe geschickt worden und liegen
irgendwo in Deutschland beim reisenden Hofstaat des Kaisers. Anne hat
begonnen, ihn als designierten Erzbischof zu bezeichnen. Keiner weiß, wie
lange er brauchen wird, um nach Hause zu gelangen. Mit seinem Geheimnis, sagt
Rafe.
Natürlich, erwidert er, sein
Geheimnis, von dem er am Rand der Seite geschrieben hat.
Rafe besucht den Schrein. Es
ist sein erstes Mal. Er kommt
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