Mantel, Hilary
kleinsten Wendung des Schicksals seinen Nutzen pressen. Wenn Henry noch
zwanzig Jahre lebt, Henry, der Wolseys Schöpfung ist, und wenn ihm dann dieses
Kind nachfolgt, kann ich meinen eigenen Prinzen schaffen: zur Lobpreisung
Gottes und des Staates England. Denn ich werde noch nicht zu alt dafür sein.
Denk an Norfolk, er ist schon sechzig, sein Vater war siebzig, als er in
Flodden kämpfte. Und ich will nicht wie Henry Wyatt sein und sagen, jetzt ziehe
ich mich von den Staatsgeschäften zurück. Denn was gibt es anderes als
Staatsgeschäfte?
Anne ist wieder auf den Füßen,
wacklig. Cranmer, eingehüllt von einer dichten Weihrauchwolke, legt das Zepter
in ihre Hand, den Elfenbeinstab, und drückt kurz die Edwardskrone auf ihren
Kopf, bevor er sie durch eine leichtere, erträglichere Krone ersetzt: eine
Fingerfertigkeit mit geschmeidigen Händen, als hätte er sein ganzes Leben lang
Kronen ausgetauscht. Der Prälat sieht leicht aufgeregt aus. Hat ihm womöglich
jemand einen Becher warme Milch angeboten?
Gesalbt, zieht sich Anna
zurück, Weihrauchschwaden umgeben sie, verschlucken sie: Anna Regina begibt
sich in ein Schlafgemach, das ihr zur Verfügung steht, um sich auf das Festmahl
in Westminster Hall vorzubereiten. Er schiebt sich ohne Umstände durch die
Würdenträger - ihr alle, ihr alle, die ihr gesagt habt, ihr würdet nicht hier
sein - und erblickt Charles Brandon, Konnetabel von England, der auf seinem
weißen Pferd sitzt und darauf wartet, zwischen ihnen in die Halle zu reiten.
Er ist eine riesige, lodernde Erscheinung, von der er seinen Blick abwendet;
auch Charles, denkt er, wird mich nicht überleben. Zurück in das Halbdunkel,
auf Henry zu. Nur eines hält ihn auf: der Anblick des Saums einer
scharlachroten Robe, die um eine Ecke huscht; zweifellos ist es einer der
Richter, der seinem Zug entflohen ist.
Der venezianische Botschafter
blockiert den Eingang zu Henrys Loge, aber der König winkt ihn zur Seite und
sagt: »Cromwell, sah meine Frau nicht gut aus, sah sie nicht schön aus? Würden
Sie zu ihr gehen und ihr etwas geben ...«, er sieht sich um, sucht nach einem
passenden Geschenk, zerrt dann einen Diamanten von seinem Fingerknöchel,
»würden Sie ihr das hier geben?« Er küsst den Ring. »Und das auch?«
»Ich werde mir Mühe geben, das
Gefühl zu überbringen«, sagt er und seufzt, als wäre er Cranmer.
Der König lacht. Sein Gesicht
leuchtet. »Das ist mein bester«, sagt er. »Das ist mein bester Tag.«
»Bis zur Geburt, Majestät«,
sagt der Venezianer und verbeugt sich.
Es ist Mary Howard, Norfolks kleine Tochter, die ihm
die Tür öffnet.
»Nein, Sie können ganz sicher
nicht hereinkommen«, sagt sie. »Ganz und gar nicht. Die Königin ist unbekleidet.«
Richmond hat recht, denkt er,
sie hat überhaupt keine Brüste. Trotzdem. Mit vierzehn. Ich werde diese kleine
Howard bezaubern, denkt er, also bleibt er stehen, spinnt sie in Worte ein, macht
ihr Komplimente für ihr Kleid und ihren Schmuck, bis er von innen eine Stimme
hört, gedämpft wie eine Stimme aus dem Grab; und Mary Howard springt und sagt:
Oh, in Ordnung, wenn sie es sagt, können Sie zu ihr hinein.
Die Bettvorhänge sind
zugezogen. Er zieht sie zurück. Anne liegt in ihrem Hemd da. Sie sieht flach
aus wie ein Geist, bis auf den schockierenden Sechsmonatshügel ihres Kindes.
In ihren zeremoniellen Gewändern war ihr Zustand kaum zu sehen gewesen, und
nur der heilige Moment, in dem sie mit dem Bauch auf den Steinen lag, hatte ihn
in Verbindung mit ihrem Körper gebracht, der jetzt ausgestreckt daliegt wie
eine Opfergabe: ihre geschwollenen Brüste unter dem Leinen, ihre nackten,
angeschwollenen Füße.
»Mutter Gottes«, sagt sie.
»Können Sie die Howard-Frauen nicht in Ruhe lassen? Für einen hässlichen Mann
sind Sie sehr selbstsicher. Lassen Sie sich ansehen.« Sie hebt den Kopf. »Ist
das Purpurrot? Es ist ein sehr schwarzes Purpurrot. Haben Sie meine Befehle
missachtet?«
»Ihr Vetter Francis Bryan
sagt, dass ich aussehe wie ein wandelnder Bluterguss.«
»Eine Prellung des
Staatskörpers.« Jane Rochford lacht. »Werden Sie es schaffen?«, fragt er: fast
zweifelnd, fast zärtlich. »Sie sind erschöpft.«
»Ach, ich glaube, sie wird
durchhalten.« In Marys Stimme ist kein schwesterlicher Stolz zu hören. »Sie
wurde dafür geboren, ist es nicht so?« Jane Seymour: »Sieht der König zu?«
»Er ist stolz auf sie.« Er
spricht zu Anne, die ausgestreckt auf ihrem Katafalk liegt. »Er sagt, Sie haben
niemals
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