Mantel, Hilary
Vorfahren: sein
warmes, festes Schlangenfleisch.
In Italien hatte er gewettet
und eine Schlange in die Hand genommen, die er halten musste, bis die anderen
bis zehn gezählt hatten. Sie zählten ziemlich langsam in den langsameren
Sprachen wie Deutsch: eins, zwei, drei... Bei vier machte die erschrockene
Schlange eine blitzschnelle Kopfbewegung und biss ihn. Zwischen vier und fünf
griff er fester zu. Jetzt riefen einige: »Jesus, lass sie fallen!« Einige
beteten und einige fluchten, einige zählten einfach nur weiter. Die Schlange
sah nicht gut aus; als schließlich jeder die zehn erreicht hatte, nicht vorher,
legte er den zusammengerollten Körper sanft auf den Boden und ließ die Schlange
in ihre Zukunft gleiten.
Er hatte keine Schmerzen, aber
man konnte die Bisswunde deutlich erkennen. Instinktiv leckte er sie ab, biss
sich beinahe in das eigene Handgelenk. Er bemerkte - überrascht - das intime,
weiße englische Fleisch an der Innenseite seines Unterarms; er sah die schmalen
blaugrünen Venen, in die die Schlange das Gift verströmt hatte.
Er sammelte seinen Gewinn ein.
Er wartete auf den Tod, aber er starb nicht. Wenn überhaupt, wurde er stärker,
lernte, sich schnell zu verstecken, schnell zuzuschlagen. Kein mailändischer
Quartiermeister war lauter als er, kein angeheuerter Berner capitaine, der nicht vor dem
unerbittlichen Ruf zurückwich, der ihm vorausging: erst das Blut, dann das
Verhandeln. Heute Nacht ist es heiß, es ist Juli; er schläft; er träumt.
Irgendwo in Italien hat eine Schlange Kinder. Die Kinder heißen Thomas; sie
tragen Bilder der Themse in ihrem Kopf, Bilder von schlammigen flachen Ufern
jenseits der Gezeiten, jenseits des schwappenden Wassers.
Als er am nächsten Morgen
aufwacht, schläft Liz noch. Die Laken sind feucht. Sie ist warm und ihr Gesicht
ist gerötet, glatt wie das eines jungen Mädchens. Er küsst ihren Haaransatz.
Sie schmeckt salzig. Sie murmelt: »Sag mir, wann du nach Hause kommst.«
»Liz, ich gehe nicht fort«,
sagt er. »Ich gehe nicht mit Wolsey.« Er steht auf. Sein Barbier kommt, um ihn
zu rasieren. Er sieht seine eigenen Augen im glänzenden Spiegel. Sie sehen
lebendig aus, Schlangenaugen. Was für ein merkwürdiger Traum, sagt er zu sich.
Als er nach unten geht,
glaubt er, Liz zu sehen, die ihm folgt. Er glaubt ihre weiße Haube aufleuchten
zu sehen. Er dreht sich um und sagt: »Liz, geh zurück ins Bett...« Aber sie ist
nicht da. Er hat sich geirrt. Er sammelt seine Papiere zusammen und geht nach
Gray's Inn.
Verhandlungspause. Es geht um
keine juristische Sache; die Diskussion dreht sich um Texte und den
Aufenthaltsort von Tyndale (irgendwo in Deutschland), und das vordringlichste
Problem ist ein Anwaltskollege (wer wollte da behaupten, er sollte nicht dort sein,
Gray's Inn nicht aufsuchen?) namens Thomas Bilney, der auch Priester ist und
Fellow von Trinity Hall. »Der kleine Bilney« wird er genannt, weil er klein ist
und gewisse wurmgleiche Eigenschaften hat; er sitzt auf einer Bank, windet sich
und spricht zu Aussätzigen über seine Mission.
»Die Schriften sind für mich
wie Honig«, sagt der kleine Bilney, rutscht auf seinem mageren Hintern hin und
her und strampelt mit den Schrumpelbeinen. »Ich bin trunken vom Wort Gottes.«
»Um Christi willen, Mann«,
sagt er. »Sie müssen nicht glauben, aus Ihrem Loch kriechen zu können, nur weil
der Kardinal weg ist. Denn jetzt hat der Bischof von London freie Hand, ganz zu
schweigen von unserem Freund in Chelsea.«
»Messen, Fasten, Vigilien,
Begnadigungen vom Fegefeuer ... alles unbrauchbar«, sagt Bilney. »Das wurde mir
offenbart. Bleibt eigentlich nur übrig, nach Rom zu gehen und es mit Seiner
Heiligkeit zu diskutieren. Ich bin sicher, er wird sich meiner Denkweise
anschließen.«
»Sie glauben, Ihr Standpunkt
ist originell, richtig?«, sagt er düster. »Nun, vielleicht ist er das, Vater
Bilney. Schließlich glauben Sie, der Papst würde Ihren Rat in dieser
Angelegenheit zu schätzen wissen.«
Beim Hinausgehen sagt er: Da
ist einer, der ins Feuer springt, wenn man ihn dazu einlädt. Masters, seien Sie
auf der Hut.
Er nimmt Rafe zu diesen
Treffen nicht mit. Er würde kein Mitglied seines Haushalts in gefährliche
Gesellschaft bringen. Der Cromwellsche Haushalt ist so orthodox wie jeder
andere in London und genauso fromm. Untadelig, sagt er, das müssen wir sein.
Der Rest des Tages ist nicht
bemerkenswert. Er wäre früh zu Hause gewesen, hätte er nicht ein Treffen in
der
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