Mantel, Hilary
dass seine Tränen nicht echt sind; und
tatsächlich wischt er sich auch jetzt eine Träne weg, denn er kennt die
Geschichte: Der kleine Bilney in Gray's Inn, der Mann, der polnisch sprach, die
erfolglosen Boten, die Kinder, die nicht wussten, wie ihnen geschah, Elizabeth
Cromwells in der endgültigen Strenge des Todes erstarrtes Gesicht. Er beugt
sich über den Schreibtisch und sagt: »Bitte, Thomas, verzweifeln Sie nicht. Sie
haben immer noch Ihre Kinder. Und wenn die Zeit gekommen ist, wollen Sie
vielleicht wieder heiraten.«
Ich bin ein Kind, denkt er,
das nicht zu trösten ist. Der Kardinal legt eine Hand auf seine Hand. Die
seltsamen Steine flackern im Licht, das ihre Tiefe sichtbar macht: ein Granat
wie ein Tropfen Blut, ein Türkis mit silbernem Schimmer, ein Diamant, der
gelbgrau zwinkert wie das Auge einer Katze.
Er wird dem Kardinal nie von
Mary Boleyn erzählen, auch wenn er den Impuls verspürt. Wolsey würde vielleicht
darüber lachen, er könnte aber auch schockiert sein. Er muss dem Kardinal die
Geschichte unterjubeln, aber ohne den Kontext.
Herbst 1528: Er ist in Angelegenheiten des Kardinals
bei Hofe. Mary kommt auf ihn zugerannt; sie rafft die Röcke, sodass ein feines
Paar grüner Seidenstrümpfe zu sehen ist. Rennt ihre Schwester Anne ihr nach? Er
wartet, um zu sehen, was passiert. Abrupt bleibt sie stehen. »Ah, Sie sind es!«
Er hätte nicht gedacht, dass
Mary ihn kennt. Sie legt eine Hand gegen die Holztäfelung, holt Atem und legt
die andere Hand auf seine Schulter, als wäre er lediglich Teil der Wand. Mary
ist immer noch ausnehmend hübsch: blondes Haar, weiche Gesichtszüge. »Mein
Onkel, heute Morgen«, sagt sie. »Mein Onkel Norfolk. Er hat wüst gegen Sie
gewettert. Ich sagte zu meiner Schwester, wer ist dieser schreckliche Mann, und
sie sagte ...«
»Das ist der, der wie eine
Wand aussieht?«
Mary nimmt ihre Hand weg. Sie
lacht, errötet, und ihre Brust hebt sich, als sie versucht, wieder zu Atem zu
kommen. »Worüber hat Mylord Norfolk sich beklagt?«
»Ach ...«, sie wedelt mit der
Hand, um sich Luft zuzufächeln, »er hat gesagt, Kardinäle, Legaten, mit denen
war es nie lustig in England. Er sagt, der Kardinal von York plündert die
adligen Häuser, er sagt, dass er selbst regieren will und es am liebsten hätte,
wenn die Lords wie Schuljungen angeschlichen kämen, um ausgepeitscht zu werden.
Nicht dass Sie Notiz nehmen sollten von dem, was ich sage ...«
Sie wirkt zerbrechlich, ist
immer noch außer Atem: Aber seine Augen sagen ihr, dass sie reden soll. Sie
gibt ein kleines Lachen von sich und sagt: »Mein Bruder George hat auch
geschimpft. Er hat gesagt, dass der Kardinal von York in einem Armenhaus
geboren wurde und dass er einen Mann beschäftigt, der aus der Gosse stammt.
Mein Herr Vater hat gesagt, hör zu, lieber Junge, du vergibst dir nichts, wenn
du genau bist: nicht direkt die Gosse, aber eine Brauerei, glaube ich, denn ein
Gentleman ist er sicher nicht.« Mary tritt einen Schritt zurück. »Sie sehen aus
wie ein Gentleman. Ich mag diesen grauen Samt, wo haben Sie den gefunden?«
»Italien.«
Er ist befördert worden, er
ist keine Wand mehr. Marys Hand kommt wieder angeschlichen, gedankenverloren
streichelt sie ihn. »Können Sie mir auch welchen besorgen? Obwohl, vielleicht
ist er ein bisschen zu gedeckt für eine Frau?«
Nicht für eine Witwe, denkt
er. Der Gedanke muss sich auf seinem Gesicht abzeichnen, denn Mary sagt: »Ja,
so ist es. William Carey ist tot.«
Er beugt den Kopf, sehr
taktvoll; Mary beunruhigt ihn. »Der Hof vermisst ihn schmerzlich. Nicht anders
als Sie.«
Ein Seufzen. »Er war nett. Unter den Umständen.«
»Es muss sehr schwer für Sie gewesen sein.«
»Als sich der König Anne
zuwandte, glaubte er, sie würde ... er wusste ja, wie die Dinge in Frankreich
gehandhabt werden ... er glaubte, sie würde ... eine gewisse Position bei Hofe
akzeptieren. Und in seinem Herzen, wie er sich ausgedrückt hat. Er sagte, er
würde all seine anderen Mätressen aufgeben. Die Briefe, die er geschrieben
hat, eigenhändig...«
»Wirklich?«
Der Kardinal sagt immer, dass
der König nicht dazu zu bewegen ist, selbst einen Brief zu schreiben. Nicht
einmal an einen anderen König. Nicht einmal an den Papst. Nicht einmal, wenn es
von entscheidender Bedeutung wäre.
»Ja, seit letztem Sommer. Er
schreibt, und manchmal, wo er mit Henricus Rex unterschreiben würde ...« Sie
nimmt seine Hand, dreht sie um und zeichnet mit dem Zeigefinger eine Form
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