Mantel, Hilary
die Fingerspitzen aneinander.
»Sie sollten auch um einen
Mann bitten, der jung ist und gut aussieht. Wer nichts verlangt, der kriegt
auch nichts.«
»Wirklich? Ich bin anders
erzogen worden.«
Dann hattest du eine andere
Erziehung als deine Schwester, denkt er. »Beim Maskenball in York Place,
erinnern Sie sich ... waren Sie die Schönheit oder die Freundlichkeit?«
»Oh ...«, sie lächelt, »wie
lange ist das her? Sieben Jahre? Ich erinnere mich nicht. Ich habe mich so oft
verkleidet.«
»Natürlich sind Sie immer noch
beides.«
»Das ist alles, was mich
interessierte. Mich zu verkleiden. Aber ich erinnere mich an Anne. Sie war die
Standhaftigkeit.«
Er sagt: »Genau diese Tugend
wird wohl auf die Probe gestellt werden.«
Kardinal Campeggio ist mit der
Anweisung aus Rom gekommen zu blockieren. Blockieren und hinauszögern. Tun Sie
irgendwas, aber vermeiden Sie ein Urteil.
»Anne schreibt ständig Briefe
oder schreibt etwas in ihr kleines Buch. Sie läuft hin und her, hin und her.
Wenn sie meinen Vater sieht, hält sie ihm eine Handfläche entgegen: Wag es
nicht zu sprechen ... und wenn sie mich sieht, kneift sie mich. So ...« Mit den
Fingern ihrer linken Hand kneift Mary in die Luft. »Genau so.« Mit den Fingern
ihrer rechten Hand streicht sie über ihren Hals, bis sie zu der kleinen pulsierenden
Einbuchtung über dem Schlüsselbein kommt. »Hier«, sagt sie. »Manchmal bekomme
ich einen blauen Fleck. Sie will mich verunstalten.«
»Ich spreche mit dem
Kardinal«, sagt er.
»Ja, bitte.« Sie wartet.
Er muss gehen. Er hat zu tun.
»Ich möchte keine Boleyn mehr
sein«, sagt sie. »Auch keine Howard. Wenn der König meinen Jungen anerkennen
würde, wäre es etwas anderes, aber so will ich keine Maskenbälle mehr, keine
Feste, und ich will mich auch nicht mehr als Tugend verkleiden. Sie haben keine
Tugenden. Es ist alles nur Maskerade. Wenn sie mich nicht kennen wollen, will
ich sie auch nicht kennen. Lieber wäre ich eine Bettlerin.«
»Wirklich ... so weit braucht
es nicht zu kommen, Lady Carey.«
»Wissen Sie, was ich möchte?
Ich möchte einen Mann, der sie beunruhigt. Ich möchte einen Mann heiraten, der
ihnen Angst einjagt.«
Plötzlich blitzt ein Licht in
ihren blauen Augen auf. Sie hat eine Idee. Sie legt einen zarten Finger auf den
grauen Samt, den sie so bewundert, und sagt leise: »Wer nichts verlangt, der
kriegt auch nichts.«
Thomas Howard zum Onkel?
Thomas Boleyn zum Vater? Den König zum Bruder, wenn die Zeit kommt?
»Sie würden Sie umbringen«,
sagt er.
Er sollte das nicht weiter
ausführen: es einfach als Tatsache im Raum stehen lassen.
Sie lacht, beißt sich auf
Lippe. »Natürlich. Natürlich würden sie das. Was habe ich mir dabei gedacht?
Wie auch immer, ich bin dankbar für das, was Sie bereits getan haben. Für eine
kurze Zeit des Friedens heute Morgen - denn solange sie über Sie schimpfen,
schimpfen sie nicht über mich. Eines Tages«, sagt sie, »wird Anne mit Ihnen
sprechen wollen. Sie wird nach Ihnen schicken und Sie werden geschmeichelt
sein. Sie wird eine kleine Aufgabe für Sie haben oder Ihren Rat wollen. Nun,
bevor es so weit ist, gebe ich Ihnen einen Rat: Drehen Sie sich um und laufen
Sie in die andere Richtung.«
Sie küsst die Spitze ihres
Zeigefingers und legt ihn an seine Lippen.
Der Kardinal braucht ihn an
diesem Abend nicht, sodass er heimgehen kann nach Austin Friars. Sein Instinkt
rät ihm, zu allen Boleyns auf Distanz zu gehen. Es gibt wahrscheinlich Männer,
die fasziniert wären von einer Frau, die die Mätresse zweier Könige war, aber
er gehört nicht dazu. Er denkt an die Schwester und fragt sich, warum Anne sich
für ihn interessieren sollte; möglicherweise hat sie Informationen von »Ihrer
evangelischen Bruderschaft«, wie Thomas More das nennt, aber trotzdem ist es
seltsam: Die Boleyns scheinen keine Familie zu sein, die viel über ihre Seelen
nachdenkt. Onkel Norfolk hat Priester, die das für ihn erledigen. Er hasst
Gedankengänge und liest nie ein Buch. Bruder George interessiert sich für
Frauen, für die Jagd, Kleider, Schmuck und Tennis. Sir Thomas Boleyn, der
charmante Diplomat, interessiert sich nur für sich selbst.
Er würde gerne jemandem
erzählen, was vorgefallen ist. Es gibt niemanden, dem er es erzählen kann,
also erzählt er es Rafe. »Ich glaube, Sie haben sich das eingebildet«, sagt
Rafe streng. Bei der Geschichte mit den Initialen in dem Herzen reißt er seine
hellen Augen auf, aber er lächelt nicht. Er wundert sich
Weitere Kostenlose Bücher