Mantel, Hilary
sagt:
»Master, ich muss Ihnen eine Frage stellen. Unser Vater ist tot, und Sie sind
jetzt unser Vater.«
Richard Williams und der nach
Walter benannte Walter Williams: Das sind seine Söhne. »Setz dich«, sagt er.
»Sollen wir vielleicht unseren
Namen ablegen und Ihren annehmen?«
»Du überraschst mich. So, wie
die Dinge stehen, werden sich diejenigen, die Cromwell heißen, in Williams
umbenennen wollen.«
»Wenn ich Ihren Namen hätte,
würde ich ihn nie verleugnen.«
»Würde dein Vater das
gutheißen? Du weißt ja, er glaubte, dass er von walisischen Prinzen abstammte.«
»Das stimmt. Wenn er etwas
getrunken hatte, sagte er immer: Wer gibt mir einen Shilling für mein
Fürstentum?«
»Aber trotzdem hast du den
Namen Tudor in deinem Stammbaum. Jedenfalls wird das gesagt.«
»Bitte nicht«, fleht Richard.
»Das lässt mich Blut und Wasser schwitzen.«
»So schlimm ist es auch wieder
nicht.« Er lacht. »Hör zu. Der alte König hatte einen Onkel, Jasper Tudor.
Jasper hatte zwei illegitime Töchter, Joan und Helen. Helen war Gardiners
Mutter. Joan heiratete William ap Evan — sie war deine Großmutter.«
»Ist das alles? Warum hat es
bei meinem Vater immer so bedeutsam geklungen? Aber wenn ich der Vetter des
Königs bin«, Richard macht eine Pause, »und Stephen Gardiners Vetter ... was
nützt mir das? Wir sind nicht bei Hofe und werden es wahrscheinlich nie sein,
jetzt, wo der Kardinal ... also ...« Er sieht weg. »Sir ... als Sie auf Ihren
Reisen waren, haben Sie da je geglaubt, Sie würden sterben?«
Richard sieht ihn an: Wie hat
sich das angefühlt?
»Es war ein irritierendes
Gefühl«, sagt er. »Ein Gefühl der Sinnlosigkeit. So weit zu kommen. Das Meer
zu überqueren. Und dann zu sterben, weil...« Er zuckt die Achseln. »Gott weiß
warum.«
Richard sagt: »Jeden Tag zünde
ich für meinen Vater eine Kerze an.«
»Hilft dir das?«
»Nein. Ich tue es nur so.«
»Weiß er, dass du es tust?«
»Ich habe keine Ahnung, was er
weiß. Ich weiß, dass die Lebenden sich Trost spenden müssen.«
»Das tröstet mich, Richard
Cromwell.«
Richard steht auf, küsst seine
Wange. »Gute Nacht. Cysga'n dawel.«
Schlaf gut; es ist die
vertraute Wendung für alle, die zum Haus gehören. Das, was Väter, Brüder
sagen. Es ist von Bedeutung, welchen Namen wir wählen, was für einen Namen wir
uns machen. Die Leute, die tot auf dem Schlachtfeld liegen, verlieren ihre
Namen, die gewöhnlichen Leichen ohne Abstammung, nach denen kein Herold sucht,
für die keine Seelenmessen gestiftet, keine immerwährenden Gebete gesprochen
werden. Morgans Linie wird nicht abreißen, dessen ist er sicher, obwohl er in
einem Jahr starb, in dem der Tod sehr umtriebig war, in dem London die schwarze
Kleidung nicht ablegte. Er berührt seinen Hals an der Stelle, wo der Anhänger
sein sollte, der geweihte Anhänger, den Kat ihm gegeben hat; seine Finger sind
erstaunt, ihn dort nicht zu finden. Zum ersten Mal versteht er, warum er ihn
abgenommen hat und ins Meer gleiten ließ. Damit keine lebende Hand ihn
wegnehmen würde. Die Wellen haben ihn genommen, und die Wellen haben ihn auch
jetzt noch.
Der Kamin in Esher zieht immer noch schlecht. Er geht
zum Herzog von Norfolk - der stets bereit ist, ihn zu empfangen - und fragt
ihn, was mit dem Haushalt des Kardinals geschehen soll.
In dieser Angelegenheit sind
beide Herzöge hilfreich. »Nichts ist misslicher«, sagt Norfolk, »als ein
herrenloser Mann. Nichts ist gefährlicher. Was man auch über den Kardinal von
York denkt, er wurde immer gut bedient. Schicken Sie sie zu mir. Sie sollen
meine Männer sein.«
Er richtet seinen forschenden
Blick auf Cromwell. Der sich abwendet. Der weiß, dass man um ihn wirbt. Der
einen Ausdruck auf dem Gesicht hat wie eine Erbin: raffiniert, geziert, kalt.
Er ist dabei, dem Herzog ein
Darlehen zu vermitteln. Seine ausländischen Kontakte sind alles andere als
begeistert. Der Kardinal ist gefallen, sagt er, der Herzog ist aufgestiegen
wie die Morgensonne und sitzet zur Rechten Henrys. Tommaso, sagen sie, jetzt
mal im Ernst, welche Garantie haben Sie zu bieten? Irgendeinen alten Herzog,
der morgen tot sein kann — es heißt, er ist cholerisch? Sie bieten ein
Herzogtum auf Ihrer barbarischen Insel als Sicherheit an, auf der ständig
Bürgerkrieg ausbrechen kann? Wo ein neuer Krieg vor der Tür steht, wenn Ihr
eigensinniger König die Tante des Kaisers abschiebt und seine Hure als Königin
einsetzt?
Trotzdem: Er wird es
hinkriegen.
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