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Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Woelffe
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durch den Raum zu seinem Rechenbrett und
schiebt die Zählsteine hin und her. Anscheinend will der König dem Kardinal als
Gegenleistung für ein Schuldbekenntnis in der Praemunire-Klage das Leben und
ein gewisses Maß an Freiheit gewähren; aber was man ihm an Geld auch lassen
wird, um seinen Status zu wahren, es wird ein Bruchteil seines früheren
Einkommens sein. York Place wurde ihm bereits genommen, Hampton Court ist
lange verloren, und in Bezug auf das reiche Bistum Winchester überlegt der
König, wie er es am besten besteuern und plündern kann.
    Gregory kommt herein. »Ich
habe dir Kerzen mitgebracht. Meine Tante Johane hat gesagt, geh zu deinem Vater.«
    Gregory setzt sich. Er wartet.
Er zappelt. Er seufzt. Er steht auf. Er geht zum Schreibtisch seines Vaters und
bleibt davor stehen. Dann, als hätte jemand gesagt: »Mach dich nützlich«,
streckt er schüchtern die Hand aus und beginnt, die Papiere zu ordnen.
    Er sieht zu seinem Sohn hoch,
den Kopf weiterhin über den Schreibtisch gebeugt. Vielleicht zum ersten Mal,
seit Gregory ein Baby war, bemerkt er seine Hände, und er ist erstaunt, was
aus ihnen geworden ist: es sind keine kindlichen Patschhändchen mehr, sondern
die großen, weißen, sorgenfreien Hände, wie sie der Sohn eines Gentleman hat.
Was macht Gregory da? Er legt die Dokumente auf einen Stapel. Nach welchem
Prinzip ordnet er sie? Er kann sie nicht lesen, sie stehen auf dem Kopf.
Jedenfalls nicht nach dem Inhalt. Ordnet er sie nach dem Datum? Um Gottes
willen, was macht
er da?
    Er muss diesen Satz mir vielen
entscheidenden Klauseln beenden. Er sieht wieder auf und durchschaut Gregorys
Muster. Ein System der heiligen Einfalt: große Papiere nach unten, kleine nach
oben.
    »Vater ...«, sagt Gregory. Er
seufzt. Er geht zum Rechenbrett hinüber. Mit dem Zeigefinger bewegt er die
Zählsteine hin und her. Dann schiebt er sie zusammen, nimmt sie in die Hand und
baut daraus einen ordentlichen Haufen.
    Endlich sieht er auf. »Das war
eine Berechnung. Ich habe sie nicht einfach da hingeworfen.«
    »Ach, tut mir leid«, sagt
Gregory höflich. Er setzt sich neben das Feuer und versucht, so leise zu atmen,
dass er nicht stört.
    Selbst der mildeste Blick kann
herrisch werden; der Blick seines Sohnes lässt ihn fragen: »Was gibt es?«
    »Glaubst du, du kannst mit dem
Schreiben aufhören?«
    »Eine Minute«, sagt er und
hält eine um Geduld bittende Hand in die Höhe; er unterschreibt den Brief mit seiner
üblichen Formel: »Ihr aufrechter Freund, Thomas Cromwell«. Sollte Gregory ihm
sagen wollen, dass eine weitere Person im Haus tödlich erkrankt ist oder dass
er, Gregory, dem Mädchen für die Wäsche einen Heiratsantrag gemacht hat oder
dass die London Bridge eingestürzt ist, wird er das wie ein Mann tragen müssen,
aber zuerst muss er dieses Schreiben mit Sand bestreuen und versiegeln. Er
sieht auf. »Ja?«
    Gregory wendet das Gesicht ab.
Weint er? Es wäre nicht weiter verwunderlich, da er selbst auch geweint hat,
und das in der Öffentlichkeit. Er durchquert den Raum. Er setzt sich seinem
Sohn gegenüber an den Kamin. Er nimmt seine Samtkappe ab und fährt sich mit den
Händen durchs Haar.
    Lange Zeit spricht keiner. Er
sieht hinab auf seine Hände mit den dicken Fingern, den Narben und Brandwunden,
die in den Handflächen versteckt sind. Er denkt, Gentleman? So nennst du dich,
aber wen glaubst du damit in die Irre führen zu können? Nur die Leute, die dich
nie getroffen haben, oder die Leute, die du mit Höflichkeit auf Distanz hältst:
Mandanten und die Mitglieder des Unterhauses, Kollegen in Gray's Inn, die
Hausdiener der Höflinge, die Höflinge selbst... Seine Gedanken wandern zu dem
nächsten Brief, den er schreiben muss. Dann sagt Gregory mit so leiser Stimme,
als wäre er in die Vergangenheit getaucht: »Erinnerst du dich an das
Weihnachten, als ein Riese in dem Schauspiel vorkam?«
    »Hier in der Gemeinde? Ich
erinnere mich.«
    »Er sagte: >Ich bin ein
Riese, mein Name ist Marlinspike.< Sie haben gesagt, er war so groß wie der
Maibaum von Cornhill. Was ist der Maibaum von Cornhill?«
    »Sie haben ihn entfernt. In
dem Jahr, als es die Krawalle gab. Deshalb spricht man vom »schlimmen
Maifeiertag<. Damals warst du noch ein Baby.«
    »Wo ist der Maibaum jetzt?«
    »Die Stadt hat ihn in
Verwahrung.«
    »Werden wir nächstes Jahr
unseren Stern wieder aufhängen?«
    »Wenn sich unser Schicksal
wendet.«
    »Sind wir jetzt arm, weil der
Kardinal am Ende ist?«
    »Nein.«
    Die kleinen Flammen

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