Mantelkinder
Tür zum Vorzimmer aufreißen und wütend seine Autorität demonstrieren. Aber im letzten Moment hielt er inne. Dickschädel hatte sie gesagt. Dickschädel und nachgeben. Chris war immer noch davon überzeugt, dass dieser dumme Streit nicht der Grund für Karins Rückzug war. Aber in einem hatte die Nixe Recht: Sie mussten dringend miteinander reden. Je eher, desto besser.
Er nahm gerade den Mantel von der Garderobe neben der Tür, als das Telefon klingelte. „Intern“ verkündete das Display. Verstört schaute er auf die Uhr. Hatte er einen Termin vergessen? Heute war doch nur am Nachmittag ein Besuch in der JVA Ossendorf fällig. Dort saß eine ältere Dame ein, die Heroin geschmuggelt hatte. In so großem Stil, dass das Haftprüfungsverfahren für sie negativ verlaufen war, trotz ihres Alters.
Als Chris abnahm und die Nixe in betont kühlem Ton „Frau Braun“ meldete, wurde ihm heiß und kalt gleichzeitig. Wenn Susanne hier im Büro erschien, bedeutete das selten etwas Gutes.
Nicht noch eins, schoss es ihm durch den Kopf. Bitte nicht noch ein Kind! Aber da war Susanne schon hereinmarschiert und hatte zwei prall gefüllte Ordner auf den kleinen Tisch in der Besucherecke geknallt.
„Muss mit dir reden!“, blaffte sie los.
„Hallo, Chris. Schön, dich zu sehen“, sagte er mit einem halb amüsierten, halb säuerlichen Lächeln.
„Was?“ Sie sah ihn verwirrt an. „Oh! Natürlich! Tach!“
„Tach!“ Er hängte den Mantel wieder auf. „Also?“
Susanne warf sich in einen Sessel und streckte ihre langen Beine aus. Sie war blass und der abgewetzte Blazer schlotterte um ihre Schultern. War sie etwa noch dürrer geworden? Kostete der Fall sie ihre wenigen Reserven? Chris konnte sich im letzten Moment bremsen und redete ihr nicht ins Gewissen. Die Antwort, die er bekommen hätte, war sowieso klar: „Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß, Sprenger!“
„Ich komme nicht mehr weiter, Chris“, erklärte die Kommissarin unumwunden. „Ich verwalte diesen Fall, aber ich löse ihn nicht.“
Bevor er sich zu ihr setzte, ging er ins Vorzimmer. Die Nixe stierte auf ihren Computerbildschirm und tat so, als hätte sie ihn nicht bemerkt. Erst als er sich räusperte, drehte sie sich um und musterte ihren Chef kalt.
„Äh … also …“, begann er. „Es tut mir Leid … ich meine … Sie haben Recht: Sie sind kein Blitzableiter.“
Aber das reichte der Nixe noch nicht. Dafür mochte sie Karin viel zu sehr. „Und Frau Berndorf?“, fragte sie spitz.
Chris kratzte sich verlegen den Kopf. „Vielleicht … ich denke, ich sollte mit ihr reden.“
Die Nixe bemühte sich immer noch um kühle Distanz. Aber das plötzliche Strahlen in ihren dunklen Augen strafte sie Lügen. „Wird aber auch Zeit!“, meinte sie erleichtert.
„Kaffee?“, fragte er schüchtern.
Seine Mitarbeiterin nickte heftig. „Kaffee und ein zweites Frühstück, wenn´s recht ist!“
Mit einem Augenzwinkern in seine Richtung stellte sie ein paar Minuten später das Tablett mit Kanne, Tassen und Kaffeesahne auf den Tisch in der Besucherecke und versprach, zwei Mäc-Frühstücke zu besorgen.
Susanne und Chris begannen, alles Punkt für Punkt durchzugehen. Dabei streiften sie die vielen Negativmeldungen nur kurz und konzentrierten sich auf die wenigen Fakten.
Der Umhang, mit dem Annika zugedeckt gewesen war, stammte aus dem renommierten Jagd-und Waffengeschäft „Kunzeler“ in der Kölner Innenstadt, wie ein eingenähtes Etikett bewies. Auf Nachfrage stellte sich heraus, dass dieses Geschäft in den letzten drei Jahren etwa siebzig Stück davon verkauft hatte — die wenigsten an bekannte Kunden.
Die Kerze war, im Gegensatz zu der bei Claudia benutzten, durchgefärbt und teuer, wurde aber in jedem guten Haushaltswarengeschäft oder in Esoterikläden angeboten.
„Aus dem Umhang und der Kerze kann man also allenfalls schließen, dass der Täter nicht arm ist“, fasste Susanne zusammen.
„Einspruch, Euer Ehren. Du sagst, laut Geschäftsführer ist der Umhang so ziemlich der preiswerteste Artikel, den Kunzeler führt.“
„Einspruch abgewiesen, Doktor Sprenger. Otto Normalverbraucher setzt keinen Fuß in den Laden.“
„Da ist was dran“, gab Chris zu. „Hilft uns im Zweifel aber auch nicht weiter. Sehen wir uns nochmal Annikas Umfeld an. Voraussetzung ist: Er will Annika umbringen und kennt Claudias Geschichte bis ins Detail.“
„Warum bringt man überhaupt ein Kind um, Chris?“, unterbrach Susanne ihn, während sie eine
Weitere Kostenlose Bücher