Mantelkinder
neue Zigarettenschachtel in der Hand drehte und nach dem Zellophanzipfelchen suchte, um sie aufzureißen.
Eine rein rhetorische Frage, dachte er im ersten Moment. Aber dann wurde ihm schlagartig klar, dass es die einzige Frage war, die sie sich bei diesem Fall überhaupt stellen mussten. Cui bono, wie Cicero es formuliert hatte. „Wem zum Guten? Wem nützte die Tat?“ Jetzt zog auch er die gleichen Schlüsse, die Susanne schon bei Bier und Cheddar gezogen hatte. Der Mörder war ähnlich perfekt vorgegangen wie Ballmann — mit einem kleinen „Schönheitsfehler“: Er hatte vergessen, der Tat eine simple, nachvollziehbare „Bedeutung“ zu geben.
„Du hast Recht.“ Chris nickte bedächtig. „Kinder werden im Affekt ermordet, wenn sie zu viel geschrien haben, wenn die Eltern überfordert sind. Wenn Väter ihre Familie abschlachten, weil sie am Leben verzweifeln.“
„Wenn sie Leuten wie Ballmann begegnen“, ergänzte Susanne. „Aber das mit Annika ergibt keinen Sinn, Chris. Außer …“
„… Außer das einzige Motiv ist ihr Tod selbst“, vollendete er. „Da geht einer hin, kopiert einerseits Ballmann. Andererseits macht er sich nicht die Mühe, einen Missbrauch auch nur vorzutäuschen. Er inszeniert Ballmanns Tat so weit wie möglich …“
„Nein, Chris!“, widersprach Susanne energisch. „Das war keine Inszenierung. Er hat es zelebriert. Er hat sie gefüttert und gekämmt, sie betäubt und zugedeckt. Und symbolisch lässt er die Kerze zurück. Das war von Anfang bis Ende eine Feier, ein Ritual.“
„Eine Opfergabe, meinst du!?“
„So ungefähr, ja.“
„Aber für wen? Von wem?“
Die Nixe kam mit einem zweiten Tablett, auf dem braune Donutstüten lagen, rote Pappschachteln mit heißen Apfeltaschen und blaue Verpackungen, aus denen es verführerisch nach Zimt duftete.
Mit plötzlichem Heißhunger fielen die beiden über das Essen her. Kauend und mit vollem Mund sprechend bildeten sie die wüstesten Theorien, um sie gleich darauf wieder zu verwerfen.
„So kommen wir auch nicht weiter“, sagte Chris bald darauf kopfschüttelnd und wischte sich mit dem Zeigefinger etwas Apfelmus aus den Mundwinkeln. „Sieh mal, ein Opfer ist etwas, was ich schweren Herzens hergebe. So weit so gut. Aber warum gebe ich das her?“
„Um meinem Gott, Guru oder sonst wem zu gefallen. Um meinen Gehorsam unter Beweis zu stellen. Wie bei Abraham und Isaak.“ Beinahe angewidert betrachtete Susanne ihre fettig-klebrigen Finger und griff zu einer Serviette.
„Oder um jemand anderen zu erlösen.“
„Ich verstehe, was du meinst. Aber für Claudia kann es nicht sein, denn die ist schon erlöst.“
„Eben“, stimmte Chris zu.
Susanne sah wieder auf ihre Hände. Sie schien zufrieden, denn sie warf die zerknüllte Serviette auf das Tablett und sagte: „Wir denken falsch, Chris. Wir denken mit gesundem Menschenverstand. Aber ein Kind auf diese Weise umzubringen, ist absolut krank.“
„Okay, versuchen wir, pathologisch zu denken.“
„Manchmal frage ich mich, was für ein Scheißjob das ist“, murmelte sie und blickte auf ihre ungeputzten Schuhe hinunter. „Ich tue mein Leben lang nichts anderes, als mich in kranke Hirne reinzuversetzen.“
Dann fasste sie sich wieder. „Also! Wie wär´s damit? Ich opfere Annika hier unten für Claudia da oben?“
Da war er wieder. Der Gedanke, der Chris gestern abhandengekommen war. Dieses Mal hielt er ihn fest und spürte, wie es heiß in ihm aufstieg.
„Hast du was?“, fragte Susanne.
„Ja“, sagte er nur. „Aber … mach erst mal weiter.“
„Sieh mal: Annika musste nur sterben, weil Claudia tot ist. Annikas Mörder macht eine Einheit daraus. Er zeigt uns, dass die beiden Kinder zusammengehören.“
Nein, nicht uns, dachte Chris, zündete zwei Zigaretten an und reichte eine davon der Kommissarin.
„Erinnerst du dich noch, was Monika Seibold vor der Kirche gerufen hat?“, fragte er dabei tonlos. „`Oh Gott, sie ist jetzt so allein da oben´.“
„Du meinst …“
„Ich meine, da kann einer nicht ertragen, dass sie `da oben´ allein ist. Er zeigt nicht uns, dass die beiden Kinder zusammengehören, sondern Gott oder wie auch immer du es nennen willst.“
„Verdammt, Chris! Wenn du Recht hast, ist dieser Typ noch durchgeknallter als Ballmann“, sagte sie und runzelte die Stirn. „Das setzt allerdings voraus, dass Annikas Mörder Claudia sehr nahe stand. Dann aber …“
Chris biss sich auf die Lippen. „Annika ist zum Zeitpunkt von Claudias
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