Mantelkinder
U-Boot spielten. Die drei hatten sich vom ersten Moment an prima verstanden. Auf der Fahrt hierher war das Auto erfüllt gewesen mit lautem Kindergeplapper. Die Rückfahrt würde mit Sicherheit stiller werden, wenn sie so weitertobten.
„Komm, lass uns eine Runde schwimmen“, schreckte Karin ihn aus seinen Betrachtungen und angelte nach den Krücken, die neben ihr auf dem Boden lagen.
Sie ging übervorsichtig auf den glitschigen Kacheln, aber dennoch zielstrebig zu dem großen Becken auf der anderen Seite. Hier herrschte die Nüchternheit eines richtigen Schwimmbads. Lange, gerade Bahnen, schmucklose Ränder, auf denen wenige Handtücher lagen. Zwei Frauen in geblümten Badekappen und ein muskulöser Typ mit dunklem Pferdeschwanz zogen ihre Runden. Der Bademeister, dessen Arme ähnlich dicht behaart waren wie die von Chris, betrachtete Karin skeptisch. Wahrscheinlich hatte er Angst, sie gleich aus dem Wasser fischen zu müssen.
Chris hatte sich immer für einen guten Schwimmer gehalten. Aber kaum waren sie im Wasser, zog Karin an ihm vorbei und er kam sich plötzlich wie eine bleierne Ente vor. Sie durchpflügte das Becken mit regelmäßigen, kräftigen Zügen und wendete schon am anderen Ende, als er noch auf der Hälfte der Strecke war. Aus den Augenwinkeln sah er, dass der Bademeister jegliches Interesse an Karin verloren hatte und sich an seinen Gummilatschen zu schaffen machte. Die einbeinige Frau konnte schwimmen — keine Frage.
Chris packte der Ehrgeiz. Er versuchte Karins Tempo mitzuhalten, wurde aber mehrfach von ihr überrundet. Und er hätte schwören können, dass in ihren Augen leichter Spott glomm, wenn sie sich begegneten. Der Ärger darüber stachelte ihn noch mehr an, aber seine Chancen waren gleich Null.
Als Karin endlich ein Einsehen hatte, sich am Beckenrand hochzog und neben ihre Krücken setzte, fühlte er sich wie Hundertzwanzig. Mit letzter Kraft hievte er sich aus dem Wasser und ließ sich keuchend neben ihr nieder. Wieso, um alles in der Welt, schwamm diese Frau als hätte sie einen Torpedo im Hintern?
„ASV-Leistungsschwimmen“, erklärte Karin, die wieder einmal seine Gedanken las. „Behindertensportgruppe fünf A, einseitig Oberschenkelamputierte. Deutsche Meisterschaften vierundneunzig.“
„Deutsche Meisterschaften?“, echote Chris fassungslos, während er immer noch nach Luft japste. Sie lebten jetzt seit sechs Monaten zusammen und es gab immer noch wesentliche Dinge aus ihrem Leben, die er nicht kannte.
„Ja — war aber nicht mein Tag. Bronze“, antwortete Karin knapp und schüttelte sich das Wasser aus den Haaren.
„Na, mir reicht´s! Wieso schwimmst du heute nicht mehr im Verein?“
Sie zuckte die Achseln und baumelte mit dem rechten Bein über dem Beckenrand. „Keine Zeit mehr, keine Lust. Und nach ein paar Jahren kommt der Punkt, wo man fürs Leistungsschwimmern einfach zu alt ist.“ Liebevoll-spöttisch sah sie ihn an. „Aber du hast Recht: Wir sollten das öfter machen.“
Sie ließ sich kopfüber ins Wasser fallen und zog wieder ihre Runden.
„Gott schütze mich“, murmelte Chris und sprang hinterher.
Dienstag, 27. November
„Das Wetter macht mich fertig!“ Hellwein versuchte durch die beschlagenen Seitenfenster etwas zu erkennen. „Wir sollten nach Asien oder so auswandern.“
„Da ist jetzt Regenzeit“, gab Susanne zurück. Sie kramte im Handschuhfach nach einem Feuerzeug, weil ihres sich mit einem eigentümlichen Zischen und einer letzten Stichflamme verabschiedet hatte.
„Hm. Zumindest wär´s warmer Regen.“
„Du hast Sorgen. Sieh lieber zu, dass du einen Parkplatz findest.“
Nach dem Gespräch mit Chris hatte Susanne tatsächlich wieder so etwas wie einen freien Kopf. Sie delegierte fast alle Koordinationsaufgaben an Klippstein und Müller, sodass sie und Hellwein eigene Recherchen durchführen konnten. Die Theorie von Chris traf bei der gesamten SOKO auf Zustimmung. Nur Ketzer, der Psychologe, machte Einwände. Seiner Meinung nach konnte das Kämmen, Zudecken und Betäuben auch eine Art „emotionale Wiedergutmachung“ sein, wie sie oft zu finden ist, wenn Täter und Opfer eine tiefe Beziehung zueinander hatten. Wie auch immer, die Konsequenz war die Gleiche: Sie mussten von allen Männern, mit denen Claudia je zu tun gehabt hatte, Speichelproben nehmen, um sie mit den DNA-Spuren am Apfel und am Rucksack zu vergleichen.
Damit scheiterte Marlene Breitner jedoch beim zuständigen Richter. Er weigerte sich, eine
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