Mantelkinder
Frauke telefoniert. Natürlich waren Horst und Silke verängstigt, das Kind verstört. Also hatten sie für heute Abend ihren Besuch zugesagt.
Seufzend warf Chris das Gutachten zurück auf den Poststapel. Wie erklärte man einer Sechsjährigen einen so grauenvollen Tod? Was sagte man Eltern, die von Missbrauch und Mord bisher nur aus der Zeitung wussten und jetzt erkannten, dass solch ein Verbrechen gar nicht so weit weg war, wie sie immer gedacht hatten?
Chris sprang so heftig auf, dass sein Stuhl vor den Heizkörper hinter ihm knallte und begann, voller Unruhe im Zimmer auf und ab zu laufen. Er spürte ein wohlbekanntes Kribbeln auf der Kopfhaut, wie von tausend Ameisen. Das letzte Mal hatten sich diese „Ameisen“ vor fünf Monaten gemeldet, als er eine schwer verletzte Prostituierte auf der Straße fand. Und prompt war er in eine Geschichte geschliddert, die ihn fast das Leben gekostet hätte und aus der am Ende auch Karin nur mit Mühe entkommen war. — Alles wegen der „Ameisen“!
Jetzt also wieder. Er wollte das nicht, wirklich nicht. Aber ihm wurde schlagartig klar, dass die „Ameisen“ keine Ruhe geben würden, bis Claudias Mörder verhaftet war.
Chris schnappte sich seinen Mantel von der Garderobe und sauste mit einem „Bin außer Haus“ an der Nixe vorbei. Allen Versprechungen zum Trotz war Doktor Christian Sprenger plötzlich wild entschlossen, sich einzumischen.
Es gab diverse Anzeichen, dass Susannes Laune miserabel war: Eine blaue Dunstglocke hing im Zimmer; die Arme waren fest vor ihrer Brust verschränkt; die Füße lagen demonstrativ auf dem Schreibtisch und der Aschenbecher, der auf einem wahren Berg von Papier thronte, quoll über.
Chris beschloss, ihre Seelenlage zu ignorieren, ebenso wie sein schlechtes Gewissen. Schließlich hatte er Karin vor ein paar Monaten hoch und heilig geloben müssen, sich nicht mehr in Dinge einzumischen, die ihn nichts angingen. Und die Suche nach dem Mörder ging ihn nichts an. Er hatte sich um die Seibolds zu kümmern und Punkt.
Im Stillen fluchte er jetzt. Nicht nur, dass Karin wütend auf ihn sein würde, er war auch noch hierhergekommen, ohne sich eine Strategie auszudenken. Aber ohne Strategie konnte er der Kommissarin keine wichtigen Informationen entlocken, weil sie sich seine Einmischung natürlich verbieten würde. Wie immer.
„Jetzt komm mir nicht mit: Wann gebt ihr endlich die Leiche frei?“, giftete sie gleich und schwang die Füße vom Schreibtisch. „Tun wir morgen früh.“
„Deine Laune war auch schon mal besser.“ Chris zog seinen Mantel aus und hängte ihn an den hölzernen Garderobenständer neben der Tür.
„Was hättest du für eine Laune, wenn du keine heiße Spur hättest? Und jedem Pressefuzzi musst du `Kein Kommentar´ sagen. Und die Hälfte deiner Leute heult sich beim hauseigenen Seelenklempner oder dem Pfaffen aus, weil sie den Tod einer Sechsjährigen nicht verkraften.“
„Verkraftest du ihn?“ Wahrscheinlich war er der einzige Mensch, der Susanne eine solche Frage stellen durfte, ohne sich ihren geballten Zorn zuzuziehen. Trotzdem lief er Gefahr, dass sie ihn jetzt aus dem Büro warf.
Doch Susanne überging die Frage. „Setz dich“, forderte sie und schob eine Packung Zigaretten über den Tisch. Das war Antwort genug.
Chris tat, wie ihm geheißen und fummelte eine Zigarette heraus. „Ihr kommt also nicht voran?“, nuschelte er, während er nach dem Feuerzeug Ausschau hielt und eine Unschuldsmiene aufsetzte.
Aber die Kommissarin erkannte seine Absicht sofort. „Vergiss es, Chris! Kein Wort!“
„Sanne. Ich werde die Nebenklage vertreten und bekomme sowieso Akteneinsicht. Also, was soll das?“
Das Gesicht von Susanne wurde so rot wie ihr Wollpullover. „Soweit ich die Strafprozessordnung im Kopf habe, entscheidet die Staatsanwaltschaft über die Akteneinsicht und auch erst dann, wenn der Täter festgenommen und das Ermittlungsverfahren gegen ihn abgeschlossen ist. Also mach du deinen Job und ich mach meinen!“
Mit einem leicht ironischen Lächeln auf den Lippen sah er seine Freundin lange an. So lange, bis ihr endgültig der Kragen platzte. „Verdammt noch mal, Chris! Was hast du vor? Deine halbseidenen Quellen anzapfen? Was glaubst du, was passiert, wenn das ganze Milieu laut trommelnd durch die Stadt läuft? Claudias Mörder verzieht sich vor Schreck in den hintersten Winkel und wir kriegen ihn nie. Das lass ich nicht zu, Chris. Niemals! Wenn wir die Ermittlung in den Sand setzen, nur weil
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