Mantelkinder
Seibold sich und den Kindern dort regelmäßig die Haare machen lässt. Der Mann hat sich gestern Abend erst bei uns gemeldet, weil er ein paar Tage bei seiner Schwester in Holland gewesen ist und von der Sache nichts mitbekommen hat.“
„Der Friseurladen — das sind …“
„… knappe siebenhundert Meter bis zu ihrer Haustür“, vollendete Susanne seinen Halbsatz und sah plötzlich müde aus. Siebenhundert Meter, die eine Sechsjährige mit einem Roller vielleicht in drei, vier Minuten bewältigte. Vier Minuten, in denen sich Claudias Schicksal entschieden hatte.
Sie strich sich mit der Hand übers Gesicht und räusperte sich, ehe sie weitersprach. „Ganz vielversprechend sind mehrere, voneinander unabhängige Aussagen, nach denen in den letzten Wochen mehrmals ein Auto vor dem Durchgang zu den Uni-Wiesen an der Luxemburger Straße im Halteverbot gestanden hat. Der Wagen ist einigen Radfahrern im Gedächtnis geblieben, weil er genau vor den Pollern stand und sie absteigen mussten, um vorbeizukommen. Wir haben leider keine Beschreibung des Fahrers, und auch die Angaben über die Automarke gehen auseinander. Fünf Leute haben das Fahrzeug gesehen. Zwei Mal soll es ein blauer Golf älteren Baujahrs gewesen sein, zwei Mal ein schwarzer Fiesta, und der Letzte schwört Stein und Bein, dass es ein anthrazitfarbener Polo war. Alle fünf haben jedoch übereinstimmend ausgesagt, dass der Wagen links hinten einen ziemlich auffallenden Unfallschaden hat. Heckklappe eingedrückt, Rücklicht zerbrochen. Wir versuchen zurzeit, noch mehr Leute aufzutreiben, denen das Fahrzeug aufgefallen ist, um die Marke genauer einzukreisen. Und wir gehen alle Unfallmeldungen der letzten Wochen durch, zu denen wir hinzugezogen wurden.
Außerdem werten wir gerade die Bilder aus dem Starenkasten an der Zubringerstraße in Gremberg aus. Wenn wir Glück haben, ist unser Mann zu schnell gewesen und geblitzt worden.“
„In der Zeitung steht, dass Rucksack und Roller immer noch nicht aufgetaucht sind“, hakte Chris ein und bediente sich noch einmal aus Susannes Zigarettenpackung. Seine eigene hatte er in seiner Aufregung vorhin im Auto vergessen.
„Richtig“, bestätigte Susanne. „Wir haben einzig und allein ihre Kleidung am Tatort gefunden … Und zwei Bund Möhren.“
„Möhren?“
„Möhren! Frisch und knackig. Wir haben keinen Schimmer, was es damit auf sich hat, oder ob sie vom Täter stammen. Aber mehr Sorgen machen mir Rucksack und Roller. Wenn wir die hätten, wären wir ein Stück weiter. Damit könnten wir vielleicht sein Nachtatverhalten rekonstruieren. Im Moment wühlen wir uns durch jeden Container in Sülz und der Neustadt Süd und sehen uns die Kleingärten rund ums Gremberger Wäldchen an. Aber es braucht halt Zeit.“
„Ihr habt doch mit Sicherheit einen vollständigen genetischen Fingerabdruck“, setzte Chris voraus.
„Klar“, bestätigte die Kommissarin. „Vom Sperma mal abgesehen, hatte die Kleine auch Hautpartikel unter den Fingernägeln. Ich denke mal, sie hat sich gewehrt, und der Täter dürfte Kratzspuren im Gesicht haben. Wir gleichen gerade unsere Datenbank mit dem Genmaterial ab, und wir werden uns intensiv mit den einschlägig Vorbestraften im Regierungsbezirk Köln beschäftigen. Wenn bei einem von denen auch nur der geringste Anfangsverdacht hängenbleibt, wird er zur Speichelprobe gebeten.“
Der tiefe Seufzer, der aus ihrer mageren Brust kam, ließ Chris aufmerken. „Aber?“, fragte er.
„Aber … Die Indizien, die wir bisher haben, sprechen dagegen, dass wir in den einschlägigen Kreisen Glück haben.“
Sie stand auf, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und begann, in dem kleinen Büro auf und ab zu wandern. „Es gibt mehrere Aspekte, die das nahe legen. Erstens: Der überwiegende Teil pädophiler Männer sucht gezielt nach Kindern, die einen vernachlässigten Eindruck machen. Die aus sozial schwachem Umfeld stammen, oft gelangweilt auf der Straße rumhängen, weil die Eltern sich nicht um sie kümmern können oder wollen. Kinder, die potentiell anfällig für vermeintliche Zuneigung sind. Claudia aber hat diesen Eindruck mit Sicherheit nicht vermittelt. Sie hat zu Hause genug Aufmerksamkeit bekommen, wieso hätte sie die also woanders suchen sollen? Trotzdem hat er sie ausgewählt und — sie ist mit ihm gegangen.“
Susanne unterbrach ihre Wanderung und lehnte sich mit dem Hintern an die Fensterbank.
„Zweitens“, fuhr sie fort, „Die meisten Pädophilen schnappen sich
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