Mantelkinder
über den Scanner. Nur bei Sonderangeboten müssen wir die Dinger noch kleben. Damit der Kunde drauf aufmerksam wird, meinen die da oben.“
Er tippte auf das Etikett. „Aber so´n Zahlenscheiß wie hier drauf ist, gibt´s bei uns nicht. Da kenn ich nur eine, die das macht. Unsere Carla ist ´ne Hundertfünfzigprozentige. Die kann Ihnen anhand der Ziffern da unten wahrscheinlich noch nach zehn Jahren sagen, in welcher Woche, in welcher Stunde und von welchem Mitarbeiter das ausgezeichnet worden ist.“
„Carla?“, fragte Chris zurück und merkte, wie die „Ameisen“ ihren Tanz begannen.
„Carla Henninger“, bestätigte der Mann im weißen Kittel. „Sie ist die Leiterin der Filiale Gremberg.“
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Missmutig legte Susanne das kurze Fax des LKA zur Seite und schüttelte den Kopf. So ein Täterprofil hätte sie auch zustande gebracht. Dass Claudias Mörder männlich war, wussten sie selber; dass der Täter zwischen zwanzig und fünfzig Jahre alt sein sollte, war in einer Stadt mit einer Million Einwohnern überaus „hilfreich“. Und um zu erkennen, dass er ein sozialer Außenseiter mit hoher krimineller Energie und einem überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten zu sein schien, musste man wahrlich kein Psychologiestudium hinter sich haben.
Das Telefon summte. Noch in Gedanken nahm Susanne den Hörer ab.
„Kannst du mal rüberkommen?“ Hellweins Stimme klang angespannt und sie vergaß das Täterprofil sofort.
„Wo rüber?“, fragte sie und sah auf die große Wanduhr neben dem Stadtplan. Es war 9 Uhr 30.
„Vernehmungsraum.“
Sie legte auf und eilte mit langen Schritten den gelb gestrichenen Flur entlang. Dabei erst fiel ihr auf, dass die klobigen Winterschuhe, die sie heute früh aus dem Schrank gekramt hatte, staubig waren und noch Schlammspritzer vom letzten Jahr aufwiesen. Passt ja zu deinem übrigen Outfit, dachte sie ironisch. Sie trug verwaschene Jeans, eine ungebügelte Bluse und einen Blazer, der so alt war, dass er am Kragen und an den Ellbogen glänzende Stellen hatte. — Es war ihr herzlich egal.
Hellwein erwartete sie vor dem Vernehmungszimmer. „Schneider hat was. Könnte spannend sein“, erklärte er, während er die Tür öffnete und ihr den Vortritt ließ.
Hauptkommissar Wilhelm Schneider, ein vierschrötiger Mann mit grauem Haarkranz, arbeitete eigentlich im Dezernat für Drogenkriminalität. Susanne konnte ihn nicht ausstehen — was wahrscheinlich auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber er war hartnäckig und ausdauernd, und deshalb hatte sie ihn in der SOKO haben wollen und ihm die Leitung der Ermittlungsgruppe „Auto“ übertragen. Er sollte mehr Informationen über das dunkle Fahrzeug zusammentragen, gleichzeitig koordinierte er die Leute, die den Parkplatz am Gremberger Wäldchen überwachten. Sie sprachen die wenigen Liebespärchen an, die sich noch dorthin verirrten, denen aber in der fraglichen Nacht vielleicht etwas aufgefallen war.
Schneider saß hinter einem abgewetzten Resopaltisch, der mit unzähligen Brandlöchern verunstaltet war. Jede einzelne der braunen Vertiefungen zeugte davon, wie viel Verzweiflung, Unbehagen, Trotz und Lügen hier schon zum Ausdruck gekommen waren.
Ein Gebäude für dreißig Millionen, aber kein Geld mehr für neue Möbel, dachte Susanne bitter. Vor zehn Jahren waren sie in das moderne Präsidium gezogen, aber jetzt erst wurde nach und nach die alte Innenausstattung ersetzt. Die der Todesermittler war jedoch noch lange nicht dran.
Der Kommissar würdigte Susanne keines Blickes, als sie eingetreten war und sich einen Stuhl heranzog. Ihm gegenüber saß ein etwa zwanzig Jahre alter Junge — anders konnte man ihn nicht nennen. Seine Gesichtszüge waren von entwaffnender Offenheit, fast schon naiv, der Bartwuchs ging allenfalls als Flaum durch und seine himmelblauen Augen glitten beinahe ängstlich im Raum umher. Zu dunklen Jeans trug er ein kariertes Flanellhemd, dessen Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt waren.
Schneider fixierte ihn mit schmalen Augen und sein von tiefen Falten durchsetzter Stiernacken ruckte. „So, mein Junge. Sebastian“, sagte er jovial und zog den Vornamen unnötig in die Länge, wie Susanne fand. „Und jetzt erzähl der Tante hier mal was.“
Der unruhige Blick von Sebastian flog über die Brandlöcher, ehe er an Susannes Gesicht hängenblieb. Sie nickte ihm aufmunternd zu.
„Na ja, das war so“, begann er zögernd, „wir waren am letzten Freitag im … wir waren da im Gremberger
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