Mantelkinder
hier.“
„Was macht dich so sicher?“
Statt zu antworten, steuerte sie eine Bank an und setzte sich umständlich. Chris ließ sich neben sie fallen und kramte Zigaretten aus der Innentasche seiner Daunenjacke. Er zündete zwei an und reichte eine an Karin weiter. Dann wartete er. Wenn sie etwas sehr beschäftigte, dauerte es eine Weile, bis sie damit herausrückte. Er kannte das und beobachtete in aller Ruhe, wie weiter vor ihnen eine rot-weiße Straßenbahn vorbeirumpelte und an der Haltestelle zum Stehen kam. Zischend öffneten sich die Türen und Sekunden später war der Bahnsteig voller Menschen.
Die Bahn hatte ihren Weg längst fortgesetzt, als Karin herausplatzte: „Also, pass auf! Claudia kommt seit Anfang des Schuljahres jeden Mittag durch den Park. Sie hat sicher nicht den Umweg über die Straße genommen. Und nun stell dir vor, hier sitzt zufällig um die gleiche Zeit ein Typ rum, der auf kleine Mädchen steht. Vielleicht war´s genau diese Bank. Sie fällt ihm auf. Sie ist hübsch, sie kommt regelmäßig. Eines Tages lächelt er sie an, sagt vielleicht, was für ein schönes Kleid sie anhat, was weiß ich. Am nächsten Tag lächelt sie zurück. Am dritten Tag plaudert sie mit ihm. Am vierten Tag schenkt er ihr einen Lutscher oder sonst was. Und spätestens nach einer Woche ist er schon ein alter Bekannter, ein Vertrauter, dem man erzählt, wie es in der Schule war, dem man zuruft: Bis morgen! Und dann …“
„… geht sie mit ihm“, vollendete Chris dumpf. „Das würde bedeuten, dass er nicht nur die Tat als solche akribisch geplant hat, sondern schon Wochen vorher darauf hinarbeitete.“
„Genau.“
„Aber sie hat zu Hause nie etwas in der Art erwähnt, dass sie mittags immer mit einem Mann redet oder so.“
„Vielleicht, weil es so normal für sie war. Wer weiß, was sich im Kopf einer Sechsjährigen abspielt.“ Karin nahm die Krücken auf und zog sich daran hoch. „Komm, lass uns einen Stadtbummel machen. Ich brauch eine Pause von all dem.“
Chris machte ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Er konnte Stadtbummel nicht ausstehen. Das wusste auch Karin. Aber wahrscheinlich hatte sie Recht. Etwas Abstand von der ganzen Sache konnte nicht schaden.
Er erhob sich stöhnend und verlangte: „Zur Strafe musst du nachher mit mir Essen gehen.“
„Oh, wie unangenehm“, grinste Karin und steuerte auf die Straßenbahnhaltestelle zu.
In der U-Bahn starrte eine mit schweren Tüten bepackte Frau so lange auf Karins Beinstumpf und die Krücken, bis Chris zurückstarrte. Mit hochrotem Kopf senkte sie schließlich den Blick. So was passierte immer wieder, wenn Karin ihre Prothese nicht trug. Manchmal waren die Blicke mitleidig, manchmal voller Faszination, manchmal beinahe wütend. Ob er sich je daran gewöhnen würde?, dachte er mal wieder. Die mitleidigen Blicke hasste er am meisten. Eine einbeinige Frau in der U-Bahn brauchte kein Mitleid, sondern einen Sitzplatz.
Am Hauptbahnhof stiegen sie aus und schlenderten über die Domplatte. Vorbei an der mächtigen Kathedrale, die in der fahlen Novembersonne düster, fast bedrohlich wirkte. Trotzdem blieb Chris stehen, legte den Kopf in den Nacken, um die Spitzen der beiden Türme zu sehen und seufzte: „Ist er nicht schön?“
Karin stoppte ebenfalls und sah nach oben. „Na ja! Eher imposant, würde ich sagen. — Aber schön?“
Obwohl er sich manchmal auch nicht entscheiden konnte, ob nun die Größe oder die architektonische Perfektion ihn immer wieder faszinierten, war er ein bisschen beleidigt. Er liebte „seinen“ Dom sehr, und dass Karin ihm nun alle Schönheit absprach, verletzte seinen kölschen Stolz.
Sie schlenderten weiter zur Fußgängerzone in der Hohe Straße und Chris schauderte ein ums andere Mal. Alle Läden waren schon weihnachtlich dekoriert. Manche recht dezent mit wenigen glitzernden Sternen, andere wiederum hatten keine Skrupel, am 9. November mit Tannenbäumen, Lametta, künstlichem Schnee und Nikoläusen aufzuwarten. Den Menschen war Gott sei Dank noch keine vorweihnachtliche Hektik anzumerken. Für einen Freitagnachmittag war es sogar verhältnismäßig leer, und man konnte in aller Ruhe die Auslagen der Geschäfte ansehen, ohne ständig angerempelt zu werden.
„Bald ist es soweit, dass die am zweiten Weihnachtstag für Ostern umdekorieren“, brummte Karin in Anbetracht der gesammelten Scheußlichkeiten. „Die sind wirklich … He, sieh mal!“
Sie hatte drei große Leidenschaften: Chris, Natur
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