Mantelkinder
trippelte ausnahmsweise mal nicht ständig von einem Bein aufs andere. Dafür war Hansen umso angespannter. Sie balancierte auf der Bordsteinkante und rieb sich die vor Kälte roten Hände.
Susanne hörte nur mit halbem Ohr zu, worüber sich die beiden unterhielten. Und sie alle drei achteten kaum auf den Mann, der aus einem Nachbarhaus trat und die Straße hinunterging.
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Luise Sprenger liebte gelbe Nelken, und dass der Strauß, den sie alle vier Wochen bekam, seit einigen Monaten noch üppiger ausfiel als zuvor, zauberte ein hinreißendes Lächeln auf ihr Gesicht. Sie ließ ihre Nase zwischen den Blüten verschwinden, grinste ihren Sohn an und tauschte ein beinahe verschwörerisches Lachen mit Karin.
Innerlich schüttelte Chris den Kopf. Er würde es nie verstehen. Die brummige Karin und seine Mutter, die einen mit ihrem enormen Temperament und ihrer Sprunghaftigkeit zur Weißglut treiben konnte — sie waren vom ersten Augenblick an ineinander verschossen gewesen. Gegensätzlicher konnten zwei Menschen eigentlich gar nicht sein. Trotzdem zogen sie sich magisch an und führten so lebhafte Gespräche, dass sie darüber seine Anwesenheit völlig vergaßen.
Auch jetzt schlenderten die beiden Arm in Arm in Luises Wohnzimmer und plauderten. Chris trottete hinterher und kam nicht umhin, die tadellose Figur seiner Mutter zu bewundern. Die langen, geraden Beine, die kein einziges Krampfaderknötchen zeigten, steckten in seidig glänzenden Nylons, und sie balancierte virtuos auf hauchdünnen Pfennigabsätzen. Der knackige Hintern füllte ein pinkfarbenes Röckchen aus, das er sich allerdings etwas länger gewünscht hätte. Immerhin war sie fünfundsechzig. Dass sie seit Jahren in knallengen Lederhosen jeden Nachmittagstanztee in Köln unsicher machte und dort reihenweise Männer abschleppte, verdrängte er lieber. Ebenso wie sie jedem weismachte, Mitte fünfzig zu sein, womit sie nach mehreren Liftings gut durchkam.
Das war auch der Grund, warum sie dieses Mal an einem Mittwoch bei Luise waren, denn normalerweise gehörte ihr der vorletzte Donnerstag im Monat. Da sie aber — wie sie es nannte — in „Urlaub“ fuhr, hatten sie den Termin verschoben. Mindestens alle zwei Jahre flog sie nach Mallorca, und was sie bei Nichteingeweihten als „5-Sterne-Hotel mit Pool und Sauna“ ausgab, war in Wirklichkeit eine Schönheitsfarm mit angeschlossener Klinik, die sich auf Gesichtsstraffung spezialisiert hatte.
Der Wohnzimmertisch war mit einer weißen Damastdecke belegt und aus ihren reichhaltigen Porzellanbeständen hatte Luise heute die Serie „Wildrose“ gewählt. Chris fand das großblumige grün-rosa Dekor schrecklich — wie so manches in dieser Wohnung. Das fing bei dem rauchgrauen Teppichboden an, dem man nicht nur ansah, dass er teuer gewesen war, sondern auf dem auch jeder Fussel ins Auge stach, bis hin zu den schier endlosen Reihen Kristallgläser in einer hohen Vitrine, deren eingeschliffene Muster so überfrachtet wirkten, dass es ihn jedes Mal grauste, wenn er aus einem davon trinken musste. Oder die Couchgarnitur aus weißem Leder, die zwar ein Vermögen gekostet hatte, aber grässlich unbequem war und bei der kleinsten Bewegung knarzte. Mein Gott, dachte er schaudernd, als einziges Kind würde er sich in — hoffentlich — ferner Zeit um ihren Nachlass kümmern müssen und entscheiden, was damit geschah.
Als die Blumen versorgt waren und sie sich bei Kaffee und Kuchen gegenübersaßen, fragte Karin geradeheraus: „Du hast dich also auf der Schönheitsfarm angemeldet?“
Chris hätte sich für die Frage ein „Sei nicht so neugierig“ eingefangen, Karin wurde nur mit einem mokanten Lächeln bedacht, als Luise antwortete: „Wer geht denn heute noch auf die klassische Schönheitsfarm? Ich bitte dich! Anti-Aging sage ich nur. Hochdosierte Vitamine, spezielle Hormone, abgestimmte Diät mit ungesättigten Fettsäuren, et cetera. Und wenn du dir zum Schluss die Falten unterspritzen lässt“, die Kuchengabel stach triumphierend in die Luft, „siehst du zehn Jahre jünger aus!“
„Somit wärst du also fünfundvierzig“, stellte Karin trocken fest und Chris verschluckte sich fast an seiner Sahnetorte.
„Na, übertreib nicht“, kokettierte Luise. „Aber fünfzig wäre drin.“
Sie nahm sich ein zweites Stück Erdbeer-Sahne, und Chris fragte sich unwillkürlich, wie viel ungesättigte Fettsäuren wohl darin enthalten waren. Er lebte gern, sicher. Er wollte alt werden, auch okay. Aber
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