Mantelkinder
vorbeikam.“
Sie rieb sich nachdenklich das Kinn. Die Indizien waren beinahe schon erdrückend. Trotzdem würde sie erst wieder gut schlafen können, wenn der DNA-Abgleich positiv ausfiel.
In der Tür stieß Hansen mit Ketzer zusammen, der überaus ernst dreinblickte. Er fuhr sich mit den manikürten Fingern durch das silbergraue Haar und schüttelte den Kopf. „Ihr Kandidat ist ja ein wahrer Quell der Freude für meine Zunft.“
Susanne hätte beinahe die Augen verdreht. Musste der Kerl sich immer so geschwollen ausdrücken? Stattdessen verlangte sie: „Erklären Sie mir, was in so einem Kopf vorgeht, ja?!“
„Nun, sehen Sie …“
„´tschuldigung“, mischte sich Hellwein ein, „ich hab tierischen Kohldampf. Können wir in die Bude gehen und da weiterreden?“
Die Aussicht auf ein weiteres Mal Currywurst mit Fritten stimmte Susanne nicht gerade glücklich. Aber besser als der Kantinenfraß war es allemal, und Hunger hatte sie auch.
Die „Bude“ war ein gehobener Imbiss in der Nähe des Präsidiums, wo man an blanken Holztischen sitzen konnte und seine Pommes auf einem Porzellanteller bekam. Trotzdem wirkte Ketzer in seinem dunklen Zweireiher hier völlig fehl am Platz. Doch er machte sich mit Appetit über seine Frikadellen her und trank das Bier aus der Flasche.
„Tja“, begann er zwischen zwei Bissen. „Ihr Ballmann ist eine sehr komplexe Persönlichkeit. Einerseits ist da der machtlose, kleine Junge, dem sich die Mädchen auf dem Strich verweigern. Dann kommt er zum Ziel und ist groß und stark — vor allem seiner Mutter gegenüber.“
Hellwein und Susanne runzelten gleichzeitig die Stirn. Stark der Mutter gegenüber, die ihm Stubenarrest erteilte?
Ketzer lächelte überheblich. „Das klingt für Laien nach einem Widerspruch, ich weiß. Sehen Sie es mal so: Wann immer er wollte, hat er sie an den Rand eines Kollaps gebracht, weil sie Sperma an ihm roch. Und er hat das Verbotene auch noch im Gremberger Wäldchen getan, beinahe unter ihren Augen. Dass er danach das Haus nicht verlassen durfte, war nur der Preis für seine Macht.
Lassen Sie sich durch diese unsägliche Mutter nicht täuschen. Er hatte die Machtverhältnisse schon lange herumgedreht. So oft es ihm passte, konnte er die Alte nach Belieben manipulieren und gleichzeitig sein Trauma wiederholen: Seine Mutter war unzufrieden mit ihm und hat ihn bestraft. Stellen Sie sich vor, sie wäre mal einverstanden mit ihrem Sohn gewesen. — Für ihn wäre eine Welt zusammengebrochen.“
Als Susanne endlich zu Hause war und sich in Peters ehemaligem Lieblingssessel zusammenrollte, reichte ihre Kraft nur noch, ab und zu die Bierdose zum Mund zu führen und über die vergangenen Stunden nachzudenken. In den fünfundzwanzig Jahren, die sie bei der Polizei war, hatte sie eine Menge verquere Menschen kennengelernt, verwirrende Beziehungsgeflechte aus Macht und Ohnmacht, Schuld und Unschuld. Eine so subtile und andererseits brutale Manipulation wie zwischen Ballmann und seiner Mutter, war ihr jedoch noch nicht untergekommen. Beinahe zwangsläufig hatte es da früher oder später zu einer Katastrophe führen müssen.
Sie gähnte so herzhaft, dass die Kieferknochen knackten und rieb sich die brennenden Augen. Nach dem zweiten Bier kamen ihre Gedanken endlich ein wenig zu Ruhe. Sie schlich ins Bett und fiel gleich darauf in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
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Die ersten Tage hatte Gregor nicht glauben wollen, dass Claudia tot war, dass er nie wieder in ihre Augen sehen würde, nie mehr die kleine Hand spüren. Ja, er war ganz sicher, dass das Kind gleich fröhlich plappernd zu ihm gelaufen käme.
Aber Lucia redete so lange auf ihn ein, bis auch er die grausame Wahrheit akzeptierte und zu beten begann. Ein „Vater unser“ nach dem anderen, Dutzende „Ave Maria“. Er fragte Gott, wieso Er ihnen eine so schreckliche Prüfung auferlegte, was sie jetzt tun sollten. Aber es war ein einseitiges Gespräch. Wie immer. Gott hatte noch nie geantwortet. All die Jahre nicht. Er sprach einfach nicht mit Verdammten.
Bei der Trauerfeier hatte Gregor fast nur geweint, während Lucia stumm daneben saß. Vor der Kirche war er dann beinahe verrückt geworden, als ihm klar wurde, dass Claudia nicht nur aus dieser Welt verschwunden, sondern jetzt auch ganz allein war. Allein. Einsam. Verlassen. In einem Himmel, der ihr fremd war, bei einem Gott, der nicht antwortete. Das erschütterte ihn fast noch mehr als ihr Tod selbst, und auf dem Heimweg
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