Mantelkinder
sich umgezogen und die enge Jeans gegen eine bequeme Jogginghose getauscht, deren rechtes Knie ausgebeult und verwaschen war. Das linke Hosenbein war nach oben geschlagen und mit einer Sicherheitsnadel befestigt. Jetzt trat sie ans Fenster, lehnte eine Krücke an die Couch und starrte in die Dunkelheit.
Chris legte den Stadtplan zur Seite und holte aus der Küche zwei Gläser Whisky und Eis. Dann stellte er ein Glas neben Karin auf die Fensterbank und wartete. Fünf Monate mit ihr hatten ihn Geduld gelehrt — in manchen Dingen jedenfalls.
„Meinst du“, begann sie plötzlich, „meinst du, die Seibolds hätten was dagegen, wenn ich morgen mit zur Beerdigung komme?“
„Sicher nicht. Du hast genauso viel zur Lösung des Falls beigetragen wie ich.“
Sie nahm ihr Glas und trank einen Schluck. „Darum geht´s nicht“, sagte sie. „Ich dachte nur, jetzt, wo es vorbei ist … Es wäre auch für mich so eine Art Abschluss.“
Eine lange Pause folgte. Chris blieb hinter ihr stehen, ließ das Eis in seinem Glas klimpern und übte sich weiter in Gelassenheit. Karin war sicher nicht wegen der Beerdigung so nachdenklich.
Endlich nahm sie die zweite Krücke auf und drehte sich zu ihm. „Ich weiß nicht“, sagte sie. „Es gibt wohl keinen Triebtäter, der nicht gleichzeitig auch Opfer ist. Wäre Ballmann anders aufgewachsen, hätte so was nie passieren können. Wenn seine Mutter nicht tot wäre, müsste man sie mit ihm vor Gericht stellen. Herrgott! Ich frage mich, wie viele Pulverfässer á la Ballmann frei herumlaufen!“
„Ich fürchte, mehr als du und ich uns vorstellen können.“
„Hmh — wie Brecht schon geschrieben hat:
`Diesen, hör ich, sind wir losgeworden.
Und er wird es nicht mehr weiter treiben.
Er hat aufgehört, uns zu ermorden.
Leider gibt es sonst nichts zu beschreiben.
Diesen nämlich sind wir losgeworden.
Aber viele weiß ich, die uns bleiben´.“
Karin schüttelte den Kopf. „Und wenn du solche Typen letztendlich siehst! Ich kann nichts dafür, aber bei den Bildern vorhin dachte ich, das ist die ärmste Sau auf der Welt. Dabei ist er ein Monster.“
„Wie zigtausende biedere Familienväter, die ihre Kinder missbrauchen“, antwortete Chris und fragte sich, bei welchen Literaten sich Karin wohl nicht auskannte.
„Wie mein Vater, ja. Für mich war er das Monster. Aber er konnte sicher auch nicht anders. Versteh mich richtig: Was er getan hat, ist durch nichts zu entschuldigen. Aber seine Mutter war eine keifende, bigotte, herrschsüchtige Alte. Er muss sich gefühlt haben wie ein Wicht. Und da hat er seine Macht eben an mir demonstriert.“
Sie lehnte die rechte Krücke wieder an die Couch und tastete nach ihrem Glas. Die Kiesel brannten. „Und ein paar Jahre später konnte ich nicht anders und gehe hin und haue einem wildfremden Menschen eine Pflasterstein auf den Kopf, nur, weil ich nicht ertragen kann, dass er seine Freundin verprügelt.“
Es war das erste Mal, dass sie darüber sprach, und auch Chris hatte das Thema nie angeschnitten. Er kannte lediglich die fast zwanzig Jahre alte Prozessakte: Für schuldunfähig erklärt, zwei Jahre Psychiatrie, danach mehrere Jahre freiwillige psychologische Betreuung. Es war nie wichtig gewesen. Lange vorbei.
„Warst du damals Monster oder Opfer?“, fragte er jetzt.
„In dem Augenblick, wo ich auf den Typen losgegangen bin, in seinen Augen sicher das Monster“, erwiderte Karin lachend, wurde jedoch gleich wieder erst. „Nein, du hast natürlich Recht. Ich war sicher beides in dem Moment. Das ist vielleicht das Schlimmste daran. Ich hab genau gewusst, was ich tue. Aber ich bin nicht gegen mich selbst angekommen. Ich konnte mich nicht daran hindern, obwohl ich mir völlig im Klaren darüber war, dass ich den Stein hob, dass es nicht richtig war und dass ich ihn hätte töten können.“
„Aber du hast ihn nicht getötet.“
„Das war Zufall. Ich hab nur schlecht getroffen“, gab Karin trocken zurück.
Gedankenverloren sah sie zu, wie Alkohol und Eis sich in ihrem Glas vermischten. „Wo ist der Unterschied, Chris?“, fragte sie leise. „Zwischen Ballmann, meinem Vater, mir und all den anderen, die Opfer sind und Täter werden?“
„Zum Beispiel der, dass du dich nicht an einem wehrlosen Kind vergriffen hast. Und der Junge hatte nur ein dickes Loch im Schädel. — Claudia war sechs und sie ist tot!“
„Hast du schon mal einen wie Ballmann verteidigt?“
„Gott sei Dank nicht. Ich hab mich manchmal gefragt, ob ich
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