Mantelkinder
mühte sich, sie vor dem nächsten Regenguss in den Laden zu bekommen. Seine Wangen und die Nase waren knallrot vor Anstrengung und Kälte. Chris schnappte sich einen Packen himmelblauer Rahmen und war überrascht, wie schwer die Dinger waren.
Achim sah auf und rief fröhlich: „Heb dir keinen Bruch, Kleiner!“
Kleiner! Chris maß einsachtundsiebzig, was in den Augen des gutmütigen Kleiderschranks natürlich klein war. Der Scheitel von Chris reichte ihm nämlich gerade mal bis zu den Schultern.
Achims Lebensgefährte Klaus kam aus dem Laden getrippelt und Chris war heilfroh, dass er die Rahmen in der Hand hatte. Sonst hätte ihn Klaus garantiert mitten auf der Straße geherzt und auf die Wangen geküsst. Chris mochte die beiden wirklich gern, aber es war ihm einfach peinlich, sich von einem Mann abschmatzen zu lassen, und das damenhafte Gezirpe von Klaus raubte ihm manchmal den letzten Nerv.
Hinter Achim drückte sich Chris mit seiner Fracht an Klaus vorbei in den Laden. Schließlich stellte er die Rahmen schnaufend neben ein paar andere in der gleichen Farbe.
Klaus tänzelte hinterher und säuselte: „Ach, Schatzi, was bin ich froh, dass sie den Kerl geschnappt haben. Karin hat´s uns gleich erzählt!“
„Kannst du laut sagen“, antwortete Chris. „Der Typ bringt jedenfalls keine Kinder mehr um. Ist Karin noch unten?“
„Klar, ich sag ihr Bescheid“, erbot sich Achim.
„Nee, Jungs, wartet mal!“ Chris stützte die Arme auf die rot gestrichene Theke. „Ich wollte euch um einen Gefallen bitten.“ Er kramte in seinem Gedächtnis. „Habt ihr ´ne Ahnung, was ein zwokommaachtzufünfundfünfzigkommaeins ist?“
Da stimmte was nicht. War es vielleicht doch ein fünfundfünfzigkommaeinszuzwokommaacht?
In Achims Augen standen gleich mehrere Fragezeichen. „Das muss das Orakel von Delphi sein“, sagte er. „Wie war das?“
„Ein fünfzigkommaeinsichweißnichtwas“, antwortete Chris einigermaßen hilflos. Die Fragezeichen vermehrten sich galoppierend. Auf dem Weg kamen sie also nicht weiter.
„Passt auf“, sagte er deshalb. „Wir haben vor einem Schaufenster gestanden mit gebrauchten Kameras, und Karin hat von einem Nikkonapparat gesprochen. Und da waren noch gebrauchte Objektive und sie hat gesagt …“
„Oh, Schatzi“, unterbrach Klaus ihn, „du meinst ein Nikkor Macro 55/I:2,8 — so ziemlich das schärfste alte Nikkon-Objektiv, das je auf dem Markt war. Jetzt sag nicht, sie will eins haben!“
„Sie hatte jedenfalls leuchtende Augen.“
„Verstehe“, lachte Achim, „es weihnachtet, und du kannst diesen leuchtenden Augen nicht widerstehen.“
Klaus schüttelte den Kopf und rückte mit seinen feingliedrigen Händen ein paar Prospekte auf der Theke zurecht. „Das Ding war echt der Hammer. Aber es ist schwer dranzukommen und bestimmt nicht billig.“
Das hatte Chris befürchtet. Aber trotz der permanenten Ebbe in seiner Brieftasche ließ er sich nicht von der Idee abbringen, und die Jungs versprachen, sich darum zu kümmern.
Susanne sah müde und abgespannt aus. Ihre dunklen Augen hatten tiefe Schatten, und die beiden Kerben an den Mundwinkeln schienen in den letzten Tagen noch tiefer geworden zu sein. Aber ihr Haar war mit Gel in Form gebracht, die Hose gebügelt und der Blazer war halbwegs modern geschnitten. Dazu hatte sie einen dezenten Lidschatten aufgelegt.
All das verwirrte Chris genauso wie bei der Trauerfeier. Was war nur los mit ihr? Sie arbeitete an dem schlimmsten und anstrengendsten Fall ihres Lebens und bügelte plötzlich ihre Hosen! Auch Karin hob kurz die Augenbrauen, verkniff sich aber einen Kommentar.
Mario hatte ihnen einen ruhigen Ecktisch reserviert, und Chris gegenüber war die im oberen Drittel verglaste Schwingtür, hinter der sich die Küche verbarg und wo gerade jemand lauthals „Ti amo“ sang, begleitet vom Klappern einiger Töpfe.
Nachdem Mario den Wein gebracht hatte, fasste Susanne die mittlerweile drei Verhöre und den Zustand von Ballmanns Wohnung kurz zusammen.
„Er war böse und schmutzig“, schloss sie ihren Bericht ab. „So, wie seine Mutter ihm das immer gesagt hat, mussten es die Nutten ebenfalls tun. Wenn sie sich eng machten, hatte er die Macht, in sie einzudringen und gleichzeitig die Macht, seine Mutter an den Rand eines Kollaps zu bringen.“
Trotz des weitgehend emotionslosen Vortrags, den die Polizistin gehalten hatte, stellte sich auf den Armen von Chris der dichte Flaum nach oben. Nicht nur wegen Ballmanns
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