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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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so ein Mandat übernehmen würde. Bis vor kurzem wusste ich keine klare Antwort.“
    „Und jetzt?“
    „Ich könnte es nicht. Leute wie Ballmann brauchen einen angemessenen Beistand, weil sie nicht nur bestraft werden müssen, sondern auch Hilfe benötigen. Dem könnte ich nie gerecht werden, weil ich immer nur Claudia sehen würde.“
    Unwillkürlich fröstelte Chris. Er dachte an Menschen wie Rudolf Ballmann und Manfred Berndorf. An Pflastersteine. An Claudia und die Beisetzung morgen. — Und er wunderte sich, dass die „Ameisen“ noch immer keine Ruhe gaben.
     

Freitag, 16. November
     
    „Mam! Wann bin ich endlich groß genug, um allein über diese beschissene Straße zu gehen?“
    Martina Klausen wusste im ersten Moment nicht, ob sie lachen oder schimpfen sollte. Ihre Tochter hatte das typische Schmollgesicht aufgesetzt: Vorgestülpte Unterlippe, krause Stirn, wütend funkelnde Augen unter dem blonden Pony. Es sah einfach komisch aus. Aber schimpfen müsste sie natürlich, weil man mit Fünf noch nicht „beschissen“ sagen sollte.
    Sie zog Annika die Kapuze des hellen Anoraks über den Kopf und entschloss sich zu einem Kompromiss. „Wenn du in die Schule kommst“, sagte sie und zog die Kapuzenbänder energisch zusammen, „und du aufhörst, zu allem und jedem ´beschissen` zu sagen, reden wir nochmal drüber.“
    „Clara sagt auch immer ´beschissen`“, protestierte Annika.
    „Bist du ein Papagei, der immer alles nachplappert? Zieh dir die Schuhe an!“
    „Ich will die be… blöden Schuhe nicht anziehen. Ich will die roten!“
    Die Kleine verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust, und ihre dunklen Augen blitzten. Das war jetzt eine Stufe vorm nächsten Trotzanfall.
    Martina pustete sich ein Strähne aus der Stirn und stemmte ihre kräftigen Hände in die Hüften. „Annika! Du hast pinkfarbene Hosen an. Dazu kannst du keine roten Schuhe tragen!“
    Sie sah flehentlich an die Decke des kleinen quadratischen Flurs. Fünfjährige konnten verdammt anstrengend sein.
    „Warum?“, kam es denn auch wie aus der Pistole geschossen.
    „Weil es nicht zusammenpasst! Das sieht unmöglich aus!“
    „Es sieht gut aus und ich will die roten Schuhe!“
    „Annika!“
    „Mam!“
    Mam gab sich geschlagen. „Okay, rote Schuhe also“, seufzte sie und griff das Paar leuchtend rote Kinderboots aus dem Schuhschrank. „Und jetzt beeil dich. Wir sind spät dran!“
    Sie schlüpfte in ihre Daunenjacke und sah verstohlen zu, wie ihre Tochter sich vergeblich abmühte, die Schnürsenkel zu binden. Hoffentlich wuchs sich Annikas Sturheit noch aus. Wenn sie allerdings nach ihrem Vater kam … Nur ungern erinnerte sie sich an Bernd, diesen ungepflegten Rüpel. Sie hatte schnell erkannt, dass er als Lebenspartner nicht taugte. Aber da war es schon zu spät. Der Schwangerschaftstest zeigte ein eindeutiges Ergebnis. Obwohl ein Kind so gar nicht in ihre Lebensplanung passte, wäre eine Abtreibung nie in Frage gekommen. Also arrangierte sie sich mit der neuen Situation und beendete die Beziehung mit Bernd, ohne ihm ein Wort zu sagen. Er wusste wohl bis heute nicht, dass er Vater war. Aber wahrscheinlich hätte es ihn auch nicht interessiert.
    „Mam! Hilfe!“
    Annika streckte den linken Fuß aus und überließ die heillos verwurschtelten Schnürsenkel ihrer Mutter.
    Als die Schuhe gebunden waren, schulterte Annika ihren kleinen grünen Rucksack und sagte ungeduldig: „Können wir jetzt endlich gehen?“
    Im Treppenhaus fragte Martina: „Hast du auch den Apfel eingesteckt?“
    „Ja, Mam.“
    „Und du isst ihn heute, okay?“
    „Ja, Mam.“
    „Und nach dem Kindergarten gehst du gleich zu Oma Lena.“
    „Jaha, Mam!“
    „Und du isst, was Oma Lena kocht!“
    „Mam! Ich bin kein Baby mehr“, zischte Annika.
    Leider nicht, dachte Martina resigniert. Manchmal wünschte sie, Annika wäre noch das Baby, das still auf dem Boden der Werkstatt spielte, während sie selbst arbeitete und versuchte, ihre Goldschmiede in Lindenthal zu etablieren. In diesem Stadtteil saß den Leuten das Geld locker und hochwertiger Schmuck galt immer noch als Wertanlage. Und natürlich waren die Kunden anspruchsvoll. Trotzdem hatte sie sich einen Namen gemacht und konnte sich gleichzeitig angemessen um das Kind kümmern.
    Inzwischen war es jedoch so, dass Annika sich nachmittags in der Werkstatt schnell langweilte, beschäftigt werden wollte und die Kunden mit ihren altklugen Sprüchen vollquatschte. Die meisten fanden das „niedlich“,

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