Mantelkinder
folgen mein Leben lang,
und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“
Außer dem Knirschen dutzender Schuhe auf dem roten Kies und dem Surren des Elektrokarrens, der Urne und Blumen transportierte, war nichts zu hören, als sie alle den Friedhof durchquerten. Sie passierten eine schier endlose Reihe von Familiengräbern mit pompösen und überladenen Grabsteinen, ehe sie in ein Gewirr von Seitenwegen abbogen.
Hier war es frostiger als auf dem Hauptweg, denn hohe Fichten rundherum hielten Kälte und Feuchtigkeit am Boden. Die Füße von Chris erstarrten langsam zu Eis, und obwohl er die Hände tief in den Manteltaschen vergraben hielt, fühlten sie sich klamm und steif an. Von einer Sekunde zur anderen stellten sich auch noch Halsschmerzen ein. Jedes Schlucken tat plötzlich weh. Verdammt! Er hatte heute früh schon so ein blödes Kribbeln in der Nase gehabt. Eine Erkältung fehlte im wirklich noch. Er versuchte, seinen Hals zu ignorieren und an etwas anderes zu denken.
Das Lied von Bettina Wegner fiel ihm wieder ein. Mit welcher Gewalt hatte man wohl Rudolf Ballmann auf die Finger geschlagen, auf die Zehen getreten, ihn niedergebrüllt und ihm den Mund verboten? Und wie oft war sein Rückgrat gebeugt worden, bis es endgültig zerbrach? Kein Wunder, dass er abartige Phantasien entwickelt hatte.
Energisch rief Chris sich zur Ordnung. Schließlich gab es unendlich viele Menschen mit einem ähnlichen Trauma, die nicht zu Mördern wurden. Aber genau diese Kindheit würde ein geschickter Verteidiger nutzen. Er würde Ballmanns Entwicklung in allen Einzelheiten darstellen, ihm den Opferstempel aufdrücken und Claudia zum einfachen Objekt degradieren. Marlene Breitner würde dagegenhalten mit der Tat als solcher und Ballmann bewusstes, logisches und konsequent-gezieltes Handeln vorwerfen. Wahrscheinlich würde es auch noch mehrere sich widersprechende psychiatrische Gutachten geben, die die Urteilsfindung nicht einfacher machten.
Das erste Schäufelchen Erde, das dumpf auf den Urnendeckel traf, riss ihn aus seinen Gedanken. Er war so versunken gewesen, dass er sogar das „Vaterunser“ verpasst hatte.
Die Seibolds traten als erste ans Grab. Der kleine Markus stand eng bei seiner Mutter und so gerade, als hätte er einen Stock verschluckt. Mareike hielt sich am schwarzen Mantel von Monika fest. Eine kompakte Einheit aus drei Menschen, die sich gegenseitig Trost, aber auch Stärke gaben. Wolfgang stand etwas abseits. Ein paar Zentimeter nur, und doch schien es, als gehöre er nicht dazu.
Chris war ein wenig abgedrängt worden, und als er Claudia die letzte Ehre erwiesen hatte und vom Grab zurücktrat, sah er Karin und Markus in ein leises Gespräch vertieft. — Es wunderte ihn nicht wirklich. Es gab wohl kein Kind, das sich nicht magisch von Karin angezogen fühlte. Chris hatte keine Ahnung wieso, aber die große schwere Frau eroberte jedes Kinderherz im Sturm.
Er trat unter einen Baum, beobachtete lächelnd diese neue Freundschaft und wartete mit hochgezogenen Schultern und eiskalten Füßen darauf, dass endlich das letzte Schäufelchen Erde fiel.
Die elektronisch verunstaltete Melodie von Mozarts „Kleiner Nachmusik“ platzte mitten in die traurige Stille. Wütend hielt Chris Ausschau nach dem Idioten, der sein Handy nicht ausgeschaltet hatte und sah, wie Susanne davonhastete und den Apparat ans Ohr riss.
Neben einem verwitterten Obelisken blieb sie schließlich so abrupt stehen, dass Hellwein, der ihr dicht auf den Fersen war, beinahe in sie hineinlief. Als sie das Handy zurück in die Tasche steckte, war ihr Gesicht wie versteinert. Sie wechselte ein paar Worte mit Hellwein, der gleich darauf Richtung Ausgang lief.
Ihrer Körperhaltung nach war es ein heftiger Wortwechsel gewesen. Chris spürte, wie die Haut auf seinem Rücken kribbelte. Irgendetwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht. Ballmann in der Zelle erhängt, schoss es ihm durch den Kopf, oder gelyncht von Mithäftlingen, totgeprügelt, gesteinigt. So etwas in der Art musste es sein.
Susanne fixierte aufmerksam die Trauergäste und als sie Chris entdeckte, zitierte sie ihn mit einer Kopfbewegung zu sich hin. Er sah kurz zu Karin hinüber, aber die war immer noch mit Markus beschäftigt.
Als er die Kommissarin erreichte, fasste sie ihn am Ärmel seines Mantels und zog ihn noch ein Stückchen weiter von den anderen weg.
„Seit heute früh wird in Lindenthal ein kleines Mädchen vermisst“, sagte sie ohne Umschweife. Sie starrte zu Boden und
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