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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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Phantasien, sondern auch wegen Grete Horn, die beinahe exakt dieses Bild von Ballmann aufgebaut hatte.
    „Und … und wie passt Claudia da rein?“, wollte Karin wissen.
    Susanne fuhr sich müde mit der Hand über die Stirn, ehe sie antwortete. Dabei drehte sie nachdenklich das Rotweinglas zwischen den Fingern.
    „Wir haben noch keine Ahnung. Es ist nicht einfach mit ihm. Manchmal heult er nur rum und wir müssen das Verhör eine Weile unterbrechen. Wenn wir nach Claudia fragen, macht er komplett dicht, aber er hat heute Morgen sehr detailliert und völlig unumwunden seine Vorstellungen geschildert. Eigentlich wollte er sich vom Schmutz befreien. Sex mit der reinen Unschuld und so weiter.“
    Sie schüttelte sich und murmelte: „Mein Gott, das ist so pervers“, ehe sie in normalem Tonfall weitersprach. „Das konnte er sich allerdings nicht erlauben, weil seine Mutter möglicherweise mit ihm zufrieden und damit die ständige Wiederholung seines Kindheitstraumas im Arsch gewesen wäre. Dann aber hat es — Zitat von unserem Seelenklempner — eine Initialzündung gegeben. Seine Mutter lag eines Morgens tot im Bett. Sie war achtundachtzig, also an und für sich nichts Besonderes. Ballmann hat sie jedoch einfach in ihrem Zimmer liegenlassen. Vielleicht der letzte Akt des Ungehorsams. Wir haben sie gestern gefunden. Nach einer ersten Obduktion ist sie wohl eines natürlichen Todes gestorben — vor sage und schreibe mindestens drei Wochen. Danach gab es für ihn keinen Grund mehr, ungehorsam zu sein, es war ja niemand mehr da, den er auf die Palme bringen konnte. Also hat er sich akribisch auf `Das Reine´ vorbereitet.“
    „Jeder Gutachter wird ihm Schuldunfähigkeit bescheinigen“, murrte Chris. Ihm war plötzlich wieder seine eigentliche Rolle in der Geschichte eingefallen. Er starrte auf die Schwingtür, sah eine Hand, die virtuos tanzte, Fingerspitzen, auf denen ein Pizzateig die Größe eines Karrenrads erreichte. Der zu der Hand gehörende Mensch schmetterte jetzt „Cantare, oh-oh-oh-oh!“
    Susanne schüttelte den Kopf. „Nein! Du vergisst, dass er die Quelle seiner Befriedigung ganz bewusst getötet hat. Wozu sonst hätte er ein Drahtseil mitgeführt? Er hatte Klebeband, eine Plastikschnur, um sie zu fesseln, die Kerze. Wenn das alles nicht als Vorsatz gewertet wird, kannst du unser Rechtssystem nun wirklich vergessen!“
    Ob das ausreichen würde, Ballmann niedere Beweggründe anzulasten, bezweifelte Chris. Wahrscheinlich würde das Gericht seinen psychischen Zustand höher gewichten. Marios Ankunft mit einem Teller herrlich duftender „Leber, venezianische Art“ beschwichtigte ihn schließlich.
    Karin stibitzte gleich zwei Fleischstückchen und fragte mit vollem Mund: „Wie hat er Claudia überhaupt kennengelernt?“
    Susanne zuckte die Achseln. „Auch da können wir uns bisher nur was zusammenreimen. Er hat zwar mehrmals gesagt, er hätte ihr Eis gekauft, während er auf seine Schwester wartete. Aber er benutzt immer nur das Wort `ihr´. Wir nehmen also nur an, dass er damit Claudia meint.“
    Als alle gegessen hatten, öffnete Susanne einen braunen Umschlag, der die ganze Zeit neben ihrem Weinglas gelegen hatte und zog ein paar Hochglanzbilder heraus.
    „Hier, Ballmann von allen Seiten“, erklärte sie und reichte Chris die Fotos.
    Sein rundes rosiges Gesicht glänzte. Bei der Frontalaufnahme sah er geradewegs in die Kamera und hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Haltung und Blick drückten eine geradezu hündische Unterwürfigkeit aus. Und dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, empfand Chris ihn als beängstigend. Ihm, dem Erwachsenen, war klar, dass sich hinter dieser entwürdigend-demütigen Haltung kein gesunder Geist befinden konnte. Aber wie hätte das ein sechsjähriges Kind erkennen sollen?
     
    Später, zu Hause, wühlte Chris den Stadtplan heraus. Als er das Gremberger Wäldchen und die Aggerstraße gefunden hatte, wurde ihm schlagartig klar, warum Ballmann ausgerechnet die ungemütlichste Stelle am Bahndamm gewählt hatte. Wäre der nicht dazwischen gewesen, hätte seine Mutter sehen können, was er allwöchentlich mit den Prostituierten trieb. „Wenn Sie erkennen, was ihn an diesen Ort fesselt, erkennen Sie den Täter“, hallten Grete Horns Worte durch seinen Kopf. Das also war es! Praktisch unter den Augen der Mutter tat er das Verbotene. Immer und immer wieder. Ein kleines Kind, das sich diebisch freut, den gestrengen Eltern eins ausgewischt zu haben.
    Karin hatte

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