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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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aber eben nur die meisten. Der Kunde, der heute Nachmittag einen Termin hatte, gehörte nicht dazu. Er konnte Kinder nicht ausstehen. Deshalb musste Annika heute zu Oma Lena, denn Martina wollte nichts riskieren. Das Smaragd-Collier, dessen Entwurf sie heute besprechen wollte, war nicht nur eine handwerkliche Herausforderung, sondern würde auch noch jede Menge Geld bringen. Nicht auszudenken, wenn sich ihre Tochter die Zeichnung ansehen und mit gerümpfter Nase sagen würde: „Das sieht beschissen aus!“
    Annika hüpfte fröhlich vor ihr her bis zum Fußgängerüberweg — der Grund, warum sie nicht allein gehen durfte. Sie wohnten auf der einen Seite der viel befahrenen Dürener Straße, der Kindergarten war in einer ruhigen Nebenstraße auf der anderen Seite, und weit und breit gab es keine Ampel.
    Martina nahm das Kind an die Hand und vergewisserte sich, dass die Autos stehenblieben, ehe sie den Zebrastreifen betraten. Auf den regennassen weißen Strichen spiegelte sich das gelbe Warnlicht im Sekundentakt.
    An der Prälat-van-Acken-Straße pflügte Annika mit ihren roten Boots durch Berge von feuchten Blättern, die wie riesige braune Hände aussahen. Sie hoffte immer noch, die eine oder andere Kastanie zu finden.
    Martina gab ihr den obligatorischen Kuss und drehte den kleinen Körper in Richtung Elisabeth-Krankenhaus, hinter dessen Grünanlage der Kindergarten lag.
    „Ab mit dir!“, sagte sie und gab Annika einen leichten Klaps auf das Hinterteil. Eine Weile sah sie ihr hinterher. Dann zog sie den Reißverschluss ihrer Jacke höher und machte sich mit schnellen Schritten auf den Weg in die Werkstatt. Sie dachte nicht mehr an fünfjährige Trotzköpfe, sondern nur noch an den Collier-Entwurf, dem sie heute Vormittag den letzten Schliff geben wollte.
     
    ********
     
    Chris bugsierte den alten Nissan in eine winzige Lücke und sah nervös auf die Uhr. Fehlte noch, dass sie zu spät kamen, aber er hatte einfach nicht bedacht, wie miserabel die Parkplatzsituation am Südfriedhof war.
    Als sie ein paar Minuten später endlich den Vorplatz der Trauerhalle erreichten, war er überrascht, was die Seibolds unter „kleinem Kreis“ verstanden, denn er zählte ungefähr dreißig Köpfe. Na, das mussten sie selbst wissen. Wenigstens war das Medieninteresse offenbar erloschen. Er sah keine einzige Kamera und nur ein paar Polizisten, die für alle Fälle die Trauernden abschirmen sollten. Der Rummel am Dienstag hatte ihm auch gereicht. Es war ihm zuwider, dass die schlimmsten Momente im Leben einer Familie so zur Schau gestellt wurden. Deshalb hatte er sich weder die Berichte im WDR-Fernsehen, noch in der Zeitung angesehen. Andererseits war ihm klar, dass nur breite Öffentlichkeit sensibel machen konnte. Aufmerksam. Vorsichtig. Damit der nächste Rudolf Ballmann seine Tat erst gar nicht ausführen konnte.
    Weiter hinten entdeckte er Susanne und Hellwein. Jetzt, wo der Fall gelöst war, eine rein private Angelegenheit, und Chris wusste, wie viel den Seibolds diese Geste bedeuten würde.
    Monika Seibold löste sich aus einer Gruppe schwarz gekleideter Frauen, unter denen auch Ulla Sieger war, und kam zu ihnen. Sie umarmte erst Chris, dann Karin und sagte mit Tränen in den Augen: „Sie haben ihn! Sie haben ihn, dank Ihres Engagements.“
    „Dank einer cleveren, jungen Polizistin“, verbesserte Karin sie ein wenig unwirsch. Sie konnte mit Lob einfach nicht umgehen. Vielleicht aber dachte sie auch nur an ihr Engagement in der „Verrichtungsbox“. „Wir haben nur ein bisschen Hintergrundmaterial geliefert.“
    In der Trauerhalle war es feucht und von oben zog es unangenehm kalt. Die schlichte dunkelbraune Urne ging beinahe unter in einem Meer aus Kränzen und Gestecken. Chris starrte wie gebannt auf das Gefäß. So wenig blieb also von einem Menschen übrig.
    Der Pfarrer, der auch die Trauerfeier in der Nikolauskirche begleitet hatte, machte nicht mehr viele Worte. Er las nur noch den Psalm 23: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …“
    Wie schon beim Vorsatz der Todesanzeige, gelang es Chris auch jetzt nicht, etwas Tröstliches in diesen Worten zu finden. Wo war der Hirte denn gewesen, als Ballmann Claudia missbrauchte und zerriss?
    „… Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
    fürchte ich kein Unglück,
    denn du bist bei mir …“
    Karin legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel und wischte sich mit der anderen ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.
    „… Gutes und Barmherzigkeit werden mir

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