Mantelkinder
Gehstock von der Garderobe. „Du kannst mich mal, weißt du das?“, sagte sie, ohne sich umzudrehen.
Das Zuschlagen der Tür klang noch lange in seinen Ohren nach.
Gegen neun klingelte Susanne, kreideweiß im Gesicht, keine Spur mehr von Lidschatten.
Chris sah sie nur kurz an und entschied: „Ich mach dir erst mal was zu essen. Komm in die Küche.“
Er schob sie vor sich her und drückte sie auf einen Stuhl an dem runden Esstisch, genau neben dem Bild von „Grete der Fischfrau“. Der Holzschnitt zeigte eine fröhlich lachende, dicke Frau. Jetzt wirkte ihr Lachen ein wenig vorwurfsvoll — fand Chris jedenfalls.
„Wo ist Karin?“ Susanne sah sich suchend um.
Trotz des leichten Stichs in der Herzgegend, versuchte er, so gleichgültig wie möglich zu klingen, als er sagte: „Bei sich zu Hause, nehme ich an.“
Er holte Gläser und eine Flasche Wein und machte sich umständlich am Korken zu schaffen. Seine Wut war längst verraucht und hatte Enttäuschung Platz gemacht, weil Karin einfach gegangen war, ihn hatte sitzen lassen mit seinen Zweifeln und Ängsten. Ja, er kam sich verdammt einsam vor. Daran änderte auch die Anwesenheit der Kommissarin wenig.
„Oder magst du was Stärkeres?“, fragte er und füllte die Gläser.
„Du willst wohl mal ´ne besoffene Polizistin sehen, Christian Sprenger?“, fragte Susanne mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Wenn ich jetzt Schnaps trinke, bin ich in fünf Minuten blau. — Alles in Ordnung bei euch?“
„Wieso nicht?“ Chris trank einen Schluck und klapperte dann lautstark mit den Töpfen. Er hatte sich für Spaghetti mit Pesto und Tomatensalat entschieden. Das war unkompliziert und ging schnell.
„Okay, Beziehungsstress also“, stellte Susanne hinter ihm fest.
„Kommt in den besten Familien vor, oder?“ Er drehte sich nicht um, sondern redete sich ein, dass der Kloß, den er plötzlich im Hals hatte, eine weitere Steigerung seiner Erkältungssymptome war.
Erst als Susanne die Spaghetti auf dem Teller drehte und heißhungrig in sich hineinschlang, gab sie einen ersten Lagebericht ab.
„Die Kleine heißt Annika Klausen“, nuschelte sie mit vollem Mund. „Sie besucht den katholischen Kindergarten in der Decksteiner Straße. Ihre Mutter bringt sie jeden Morgen bis zum Überweg Dürener und Prälat-van-Acken-Straße. Die restlichen dreihundert Meter geht Annika allein. Heute Morgen genauso. Sie ist allerdings nicht im Kindergarten angekommen.“
Susanne schob den leeren Teller zur Seite und machte sich über den Salat her, während Chris die Weingläser ein drittes Mal füllte.
„Normalerweise geht der Kindergarten um 8 Uhr 15 los. Die Eltern rufen an, wenn ein Kind krank ist oder so. Als Annika um neun nicht da war und auch niemand sie entschuldigte, hat eine Kindergärtnerin bei Frau Klausen angerufen. Die ist zur Oma gelaufen, die beim Kindergarten um die Ecke wohnt und zu ihrer Schwester, zwei Häuser weiter. Gegen zehn hat sie schließlich die Polizei informiert. — Kann ich jetzt auf den Schnaps zurückkommen?“
Chris ging ins Wohnzimmer, um Cognac für Susanne und Whisky für sich zu holen. Im Gegensatz zu ihm fuhr sie auf so ziemlich jede Sorte Weinbrand ab.
„Und weiter?“, rief er in die Küche.
„Nichts weiter! Der Diensthabende in der Einsatzzentrale hat sofort reagiert. Wir sind wohl alle etwas sensibel zurzeit. In Absprache mit Maurer haben wir gleich das große Programm abgespult, sonst heißt es nachher wieder, wir hätten das auf die leichte Schulter genommen.“
Sie räumte Besteck und Geschirr in die Spülmaschine, lehnte sich an die Küchentheke und sah zu, wie Chris goldbraune Flüssigkeit in die Gläser laufen ließ. Dann stürzte sie ihren Cognac in einem Zug hinunter und streckte ihm auffordernd das Glas hin.
„Um halb elf waren die ersten Maßnahmen schon angelaufen. Suchmannschaften im Stadtwald, Beamte bei der Mutter, et cetera. Wir haben alles Erdenkliche getan. Ergebnis gleich null! Ich war eben bei der Mutter. Na ja — ich brauch dir nicht zu sagen, wie fertig die ist.“
Brauchte sie nicht, nein. Chris hatte noch genau vor Augen, wie Monika Seibold Blumentöpfe von der Fensterbank fegte und nach ihrem Baby schrie. Schnell verdrängte er diese schreckliche Szene aus seinem Kopf, füllte Susannes Glas nach und fragte: „Habt ihr die Medien eingeschaltet?“
„Eingeschaltet? Die brauchten wir nicht einzuschalten! Weiß der Teufel, wie sie da rangekommen sind, aber sie sind heute Mittag schon über
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