Mantelkinder
sie mit Chris darüber gestritten, dass er seine Nase in Gesetzesbücher stecken sollte und nicht in polizeiliche Ermittlungen. Mit ihm konnte man herrlich streiten — aber mit Karin?
„Hör mal …“, setzte sie zögernd an, wurde aber sofort unterbrochen.
„Ich hab ein Recht darauf, oder? Außerdem: Die Kleine hier war auch an einen Baum gebunden. Also gibt es eine Parallele zu Claudia und die Sache ist noch nicht zu Ende. Oder sehe ich das falsch?“
Nicht nur diese Parallele, dachte Susanne bitter. Und vielleicht hatte Karin wirklich ein Recht darauf.
„Also gut.“ Sie gab sich geschlagen. Viel schneller, als es bei einer Auseinandersetzung mit Chris der Fall gewesen wäre. „Ich geb dir durch, wenn wir was Konkretes haben.“
Erst als sie den Wagen startete, wurde ihr bewusst, dass Karin „mich“ gesagt hatte und nicht „uns“.
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Chris war hart an der Grenze zur Panik und zum Schüttelfrost. Er hätte zwischen den Diktaten für die Nixe einfach nicht die Tageszeitung aufschlagen sollen.
Bis dahin hatte er seine Ängste halbwegs verdrängen können. Nachdem er jedoch den Hauptaufmacher gelesen hatte, steigerte sich seine Sorge von Minute zu Minute. Man dachte kaum über Annikas Verbleib nach. Der schien für den Redakteur festzustehen. Claudia tot, also auch Annika tot. Dafür spekulierte er umso mehr über die Rolle des „Rudolf B“. Nach menschlichem Ermessen musste er unschuldig sein — obwohl oder gerade weil die Ermittlungsbehörden gebetsmühlenartig des Gegenteil behaupteten. „Rudolf B.“ hatte das Untersuchungsgefängnis nur der übereifrigen Leiterin der Sonderkommission zu verdanken. Und diese Ermittlerin war natürlich Schuld, dass die Behörden sich auf ihren Lorbeeren ausruhten. Claudias Mörder lief immer noch frei herum und hatte jetzt sein zweites Opfer gefunden.
Chris steckte die Zeitung ganz tief in den Papierkorb, um sie nicht mehr in seinem Blickfeld zu haben. Trotzdem gelang es ihm nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Er wusste nur, dass Karin Recht hatte. Sie alle waren so versessen darauf gewesen, Claudias Mörder zu finden. Und alle Indizien schienen so einleuchtend. Niemand hatte auch nur einen Gedanken daran verschwendet, Ballmann könnte unschuldig sein.
Chris drehte sich herum und stellte die Heizung noch ein wenig höher. Er fror erbärmlich und hatte Gliederschmerzen, dafür war das Halsweh weg. Aber sein Brummschädel und seine Nervosität machten ihn völlig unkonzentriert. Schon zwei Mal hatte er sich einen „Ordnungsruf“ seiner Mitarbeiterin eingefangen, weil er ganz offensichtlich nicht zuhörte.
„Chef?“
„Hm?“ Seit wann stand die Nixe schon in der Tür, und was, zum Teufel, hatte sie gesagt?
Jetzt platzte ihr der Kragen. „Sagen Sie mal, Chef“, meinte sie spitz, „warum sind Sie eigentlich hier, wenn Sie doch nicht hier sind?“
Wo sie Recht hatte, hatte sie Recht.
„Setzen Sie sich“, forderte er sie auf, nieste und griff zu den Tempos. Vielleicht half es ja, mit einer halbwegs neutralen Person drüber zu reden. Über das Kind natürlich, nicht über den Schnupfen.
„An einen Baum gebunden“, das war wie ein Schlag in die Magengrube gewesen. Von einer „statistischen Häufung“ konnte keine Rede mehr sein. Es war der Beweis, dass Ballmann der Falsche war, und seit der Zeitungslektüre kreisten seine Gedanken immer und immer wieder nur darum. Er war nicht fähig, aus diesem rotierenden Ungeheuer auszusteigen und nüchtern darüber nachzudenken. Immerhin konnte er jetzt der Nixe einen kurzen, knappen Bericht liefern, ohne allzu viele Emotionen.
Als er fertig war, stützte sie die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf die geballten Fäuste. Die vollen Lippen waren zu einem Flunsch verzogen. Ihre typische Haltung, wenn sie nachdachte. Das rote Brillengestell war weit nach vorn gerutscht, und eine der riesigen Goldkreolen an ihren Ohren hatte sich in ihrem schwarzen Wuschelhaar verfangen, aber beides schien sie nicht zu stören.
Es dauerte eine Weile, ehe sie ihren Chef ansah und sagte: „Also, erstens: Die Indizien sind so erdrückend, dass es nur Ballmann gewesen sein kann. Ich denke mal, dass wir es jetzt mit einem Trittbrettfahrer zu tun haben und Sie sich viel zu viel Sorgen machen. Und zweitens würde ich sagen: Sie gehören ins Bett. Und zwar gleich!“
Chris widersprach nicht, denn er fühlte sich von Minute zu Minute elender. Er quälte sich gerade in seinen Mantel, als Susanne anrief. Nach dem
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