Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
Vom Netzwerk:
schellte, machte sein Herz einen Hüpfer. Aber natürlich würde Karin niemals schellen.
    Es war Susanne, die sich in einer grauenhaften Verfassung befand. Sie war zittrig, blasser denn je und die dunklen Ränder unter den Augen zeugten vom Schlafmangel der letzten Wochen. Sie trug eine ausgebeulte Jeans und den zerknautschten Blazer, den Chris schon vor zwei Tagen an ihr gesehen hatte.
    „Wie lange willst du noch so weitermachen?“, fragte Chris besorgt, als sie sich an dem runden Küchentisch gegenübersaßen. Susanne war hart im Nehmen, das wusste er. Und Überstunden waren bei den Todesermittlern üblich. Aber zwei Fälle hintereinander, die der Kommissarin psychisch und körperlich alles abverlangten — das konnte sie auf Dauer nicht aushalten.
    Susanne versetzte jedoch: „Bis wir ihn haben, Chris. Bis wir ihn haben. — Ist in der Flasche von vorgestern noch was drin?“
    Viel war es nicht mehr, aber Chris holte aus dem Vorratsschrank in der Küche gleich eine neue Flasche — und ein Paket Taschentücher.
    „Hast du was gegessen?“, fragte er, als er Gläser auf den Tisch stellte.
    „Ich war mit Hellwein in der Frittenbude. Currywurst und Bullen gehören wohl untrennbar zusammen.“ Sie grinste bitter. Dann sah sie auf die Taschentücher und seine roten Augen. „Bist du überhaupt in der Lage, irgendwas aufzunehmen?“
    Chris nickte eifrig. Aber er war nicht ganz sicher, ob das der Wahrheit entsprach.
    „Na gut. Und gieß ein. Wir haben nämlich alle miteinander ein ziemliches Problem.“ Sie kramte ihren allgegenwärtigen Notizblock heraus und suchte eine Weile nach ihrer Lesebrille, während Chris die Gläser füllte und sich aus reiner Gewohnheit eine Zigarette anzündete. Sie schmeckte grauenhaft. Aber die Tatsache, dass er überhaupt wieder das Bedürfnis hatte, seinen Nikotinspiegel anzuheben, zeigte ihm, dass der Patient sich auf dem Weg der Besserung befand.
    „Also: Erste Obduktion, Tatortbefund, Spurenbericht. Alles vorläufig, versteht sich. So viel Zeit hatten wir ja noch nicht“, begann die Polizistin nüchtern. Vielleicht der einzige Weg, die Emotionen, die ein totes Kind auslöste, zu unterdrücken. Sie trank einen Schluck Cognac und vergewisserte sich mit einem Blick über die Brille hinweg, dass Chris aufmerksam zuhörte.
    „Annika ist wahrscheinlich Freitag gegen 21 Uhr gestorben, wie Claudia. Eine Joggerin hat sie gestern früh gefunden. Sie war an einem Baum festgebunden und wurde mit einem Stahlseil erdrosselt. Parallelen, die öffentlich bekannt waren, die in jeder Zeitung standen. Wenn wir jetzt aber in die Details gehen, stimmt nichts mehr — bis auf einen Punkt.“
    Susanne begann, an den Fingern abzuzählen. „Annika war mit einem dunklen Umhang zugedeckt und vollständig bekleidet. Sie war mit einem handgemalten Seidenschal gefesselt. Kurz vor oder nach ihrem Tod ist sie hingebungsvoll gekämmt worden. Da lag ein Löckchen wie das andere. Sie hat den Tag über ausreichend Nahrung zu sich genommen. Was genau, wissen wir noch nicht.
    Sie war absolut sauber. Kein Sperma, kein Blut. Von den Drosselungsmalen abgesehen, war sie völlig unverletzt. Und: Sie hatte so viel Nitrazepam in sich, dass sie garantiert nichts mitbekommen hat.“
    Auf seinen fragenden Blick erklärte sie: „Ein Schlafmittel aus der Gruppe der Benzodiazepine.“
    Chris spürte, wie sein Mund trocken wurde. Es ergab keinen Sinn. Es ergab absolut keinen Sinn.
    „Alles in allem also ein schöner Tod“, murmelte er bitter und griff hastig nach einem Taschentuch. Im letzten Moment konnte er verhindern, dass der Tropfen, der ihm so plötzlich an der Nase hing, auf der Tischplatte landete.
    „Du hast es erfasst“, stimmte Susanne zu. „Aber machen wir erst mal mit den eindeutigen Spuren weiter. „Wir haben Fußabdrücke sichergestellt: Grobes Profil, Größe 45, also Herrenschuhe. Neben dem Leichnam lag das abgenagte Kerngehäuse eines Apfels. Seinem Zustand nach zu urteilen lag es da genauso lange wie das Kind, und Annikas Mutter hat bestätigt, dass sie ein Käsebrot und einen Apfel im Rucksack hatte. Wir gehen also davon aus, dass der Täter den Apfel gegessen hat, da Annika zu dem Zeitpunkt schon betäubt gewesen sein muss. Es war genug Speichel am Gehäuse für eine Genanalyse. Wenn die fertig ist, wissen wir vielleicht schon mehr.“
    „Ein ´liebevoller` Mörder, der seelenruhig einen Apfel aus Annikas Rucksack isst?“, fragte Chris zweifelnd. „Der in die Zeitung guckt, wie Ballmann es gemacht

Weitere Kostenlose Bücher