Mantramänner
gesungen. Mich hatte Frau Rosenkötter eines Morgens beiseitegenommen. Eindringlich
hatte sie mich gebeten, lieber nur die Lippen zu bewegen. Um nicht die anderen ständig aus dem Takt zu bringen.
Im Klartext: Sie hatte mir verboten zu singen.
Das hier war natürlich etwas ganz anderes. Nitya und die anderen produzierten jetzt lang gezogene, kehlige Laute in einer völlig unverständlichen Sprache. Wohl etwas Indisches. Was sangen die da überhaupt? Ich fragte mich, ob jemand von ihnen die Worte verstand. Vielleicht hießen sie ja so etwas wie »Mama, das Curry ist zu scharf!« oder »Papa, ich hab einen neuen Job im Callcenter«?
Ich versuchte, einen möglichst meditativen Gesichtsausdruck aufzusetzen und durchzuhalten. Das war ja auch keine schlechte Übung in innerer Gelassenheit: abwarten, bis das mit dem Singen zu Ende war. Und außerdem hatte ich mir ja vorgenommen, nicht immer gleich so negative Gedanken über meine Mitmenschen zu hegen. Damit konnte ich auf der Stelle anfangen.
Was sangen die jetzt gerade? Om?
Wenigstens mal ein Mantra, von dem ich schon gehört hatte. Wenn zwanzig Yogaschüler gleichzeitig die Silbe anstimmten, klang es, als würde jemand in ein unterirdisches Röhrensystem pusten. Alles vibrierte. Ich auch.
Shanti, Shanti, Shanti, sangen sie.
Als ich gerade fand, dass ich meine innere Gelassenheit mehr als genügend trainiert hatte, erteilte Nitya die Erlaubnis zum Augenöffnen. Jetzt würde es endlich losgehen mit den Übungen, die mich in eine gelenkige, straffe Hollywood-Beauty verwandeln würden. Schließlich auch ein Grund, warum ich hier war. Seelische Schönheit hin oder her.
Ich machte Anstalten aufzustehen, wurde aber von einem einzigen Blick daran gehindert.
»Wir beginnen mit der ersten Atemübung«, fuhr Nitya fort und fixierte mich. Atemübung? Ich war verdattert. Ich hatte noch nicht einmal gewusst, dass man das Atmen üben musste. Wenn man nicht gerade ein neugeborenes Baby war.
»Wir legen die rechte Hand ins Vishnu-Mudra, Daumen ans linke Nasenloch, atmen ein, halten dann die Luft an und lassen sie
schließlich ganz langsam durch das andere Nasenloch wieder ausströmen. «
So hatte ich mir immer die Geräusche in einem Lungensanatorium aus dem neunzehnten Jahrhundert vorgestellt. Ein bisschen klang es auch nach Darth Vader, dem Typen mit der schwarzen Atemmaske aus Star Wars.
Ein Gutes hatte die Atemübung allerdings: Ich musste mich so intensiv aufs Weiterleben konzentrieren, dass ich keine Chance hatte auf einen klaren Gedanken.
Und das war ja auch ganz gut so. Denn die klaren Gedanken in den letzten Tagen waren nicht gerade erheiternd gewesen.
Nach der übernächsten Übung sah ich unauffällig zu meiner Armbanduhr. Schon eine halbe Stunde vergangen, und bisher hatten wir noch nichts gemacht außer Singen und Atmen.
»Entschuldigung«, flüsterte ich Nitya zu, »gehört das denn wirklich alles zum Yoga?«
Dummerweise röchelte in diesem Moment keiner. Alle Blicke richteten sich auf mich. Jeder im Raum hatte mich verstanden.
Statt Nitya ergriff der Mann mit dem weißen Wallegewand neben mir das Wort.
»Alles ist Yoga, Liebes«, sagte er und sah mich gütig an wie Gottvater persönlich. »Wenn du es richtig anstellst, gibt es überhaupt keine Grenze mehr zwischen Leben und spirituellem Weg.«
»Aber was ist denn mit diesen ganzen Übungen«, stotterte ich, »ich meine, diese ganzen verknoteten Körperhaltungen?«
»Die Asanas? Die dienen nur dazu, den Körper so zu kräftigen, dass du die Meditation am Ende länger durchhältst«, raunte der Bärtige, »die Asanas sind kein Selbstzweck. Auch wenn viele Leute sie als eine Art Gymnastik begreifen.«
Das begriff ich nun überhaupt nicht. Sport machen, um dann länger stillsitzen zu können?
Nitya hob die Hand. »Das können wir nachher noch weiter klären«, sagte sie, »jetzt gehen wir zu den Umkehrstellungen über.«
Fünf Minuten später sehnte ich mich schon heftig zurück nach den Atemübungen. Die waren zwar seltsam, aber immerhin hatte ich
sie sofort verstanden. Tatsächlich verwickelten die Kursteilnehmer sich jetzt in abenteuerlichen Positionen. Eine ältere Frau stand scheinbar mühelos auf dem Kopf und entblößte dabei Waden, die mich an mittelalten Gorgonzola erinnerten. Eine andere nahm eine ähnliche Position ein wie die Schauspielerin auf der Partywebsite. Stand ihr gar nicht schlecht. Obwohl sie längst nicht so dünn war.
»Du hast noch nie Yoga gemacht, oder?«, fragte Nitya und sah
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