Mantramänner
mich so mitleidig an, als hätte ich ihr eröffnet, dass ich noch nie ein Badezimmer mit fließend Wasser oder ein Besteckset mit Messer und Gabel gesehen hatte. Dann ließ sie mich eine Weile aufrecht stehen, ein Bein halb angewinkelt und den Oberkörper eigenartig verdreht.
Danach zeigte sie mir eine Übung auf der Matte, und schon wieder musste ich an meine Kindergartenzeit denken. Damals hatten wir es »Kerze« genannt, im Yoga hieß es vornehm »Schulterstand«. Während ich verwundert feststellte, welchen Unterschied doch vierzig zusätzliche Kilos und vierundzwanzig zusätzliche Jahre ausmachten, stand Nitya über mir.
»Umkehrstellungen sind heilsam«, dozierte sie leise, »sie wirken positiv auf die feinstoffliche Wirbelsäule. Dadurch regeneriert sich der Körper.«
Bingo. Da war es wieder. Jünger mit Yoga. Gern hätte ich gewusst, wie alt der Mann im weißen Wallegewand neben mir war. Ich hätte ihn ja auf etwa fünfzig geschätzt. Aber möglicherweise hatten ihn ja auch seine schlimmen Erlebnisse im Ersten Weltkrieg auf den Pfad des Yoga gebracht.
»Ich erzähle euch noch etwas zu den Umkehrstellungen«, sagte Nitya, und ich verrenkte meinen Hals. Aus meiner unbequemen Position heraus konnte ich undeutlich erkennen, wie sie ebenfalls in den Schulterstand ging und dann die Beine hinter dem Kopf durchgestreckt zu Boden brachte, bis ihre Zehenspitzen die Yogamatte berührten. In dieser Stellung sprach sie weiter, mühelos, als säße sie auf einem Barhocker. »Was ihr hier seht, ist der Pflug. Diese Körperhaltung gibt uns Energie für Veränderungen. Wenn wir vor einer Weichenstellung in unserem Leben stehen und uns der nötige Antrieb dafür noch fehlt.«
Das hörte sich nun wieder hochinteressant an. Wenn ich nur Luft bekommen hätte! Mein Bauch war schlimm zusammengestaucht, der Boden drückte unangenehm gegen meine Halswirbel. Ich wollte Veränderung, und zwar sofort! Allerdings nur eine: endlich raus aus dieser unbequemen Haltung.
Nitya hatte ein Einsehen. Leise klatschte sie in die Hände und erlöste uns aus unseren unterschiedlichen Positionen, während sie sich mühelos entfaltete.
»Leider«, sagte sie, »es ist schon wieder Zeit für unsere Schlussmeditation. «
Wieder setzten sich alle in den Lotossitz und schlossen die Augen. Mit Sicherheit konnten das auch alle anderen besser als ich.
Nityas Stimme war jetzt ein einschläfernder Singsang. »Unsere Gedanken sind wie Wolken«, hörte ich sie von fern, »wenn sie kommen, sehen wir sie uns an und schicken sie einfach weiter. Unser Ich begibt sich auf eine Reise …«
Ich machte ebenfalls die Augen zu und wartete. Jetzt würde etwas Großes passieren, da war ich ganz sicher. Ich würde eine Erkenntnis haben, eine Vision, eine Klarheit, wie ich mein neues Leben führen wollte.
Erst juckte mich mein Ellenbogen. Dann mein Ohr. Dann meine Wade.
Schließlich kamen Gedanken vorbei.
Aber nicht einfach so vorbei wie einzelne Schönwetterwölkchen. Eher wie eine aufziehende Gewitterwand an einem heißen Augustnachmittag. Ich sah Frau Stövers Thermoskanne, ich sah die offenen Hemden der schlechten Reggae-Musiker.
Ich sah Herrn Hinterhuber vor mir, der verzweifelt an einem kanarischen Wasserhahn drehte.
Ich sah Mellis Lieblingsohrringe, die mich immer an die Nussecken vom Bäcker erinnerten.
Und natürlich sah ich immer wieder Chris. Die Locken in seinem Nacken, die tiefe Kerbe zwischen seinen Schulterblättern, die Hände auf dem Lenkrad.
Nach einiger Zeit begann mir der Rücken wehzutun. Gleichzeitig
geschah etwas mit der Gewitterwand. Sie löste sich auf, und dahinter konnte ich einen dunkelblauen Himmel sehen. Plötzlich kamen Bilder, die ich lange nicht gesehen hatte. War das schon Meditation? War ich in Trance?
Ich sah genauer hin und erkannte zu meiner Verblüffung einen struppigen Busch. Er kam mir bekannt vor. So ein Gebüsch hatte vor dem Eingang der Berufsschule gestanden, vor ein paar Jahren. Dann sah ich nacheinander eine Hartplastikdose mit Bastelscheren aus dem Kindergarten, eine rote Kleinmädchenunterhose mit einem gelben Stoffaufnäher in Form einer Birne und den Briefkasten im Haus meiner Eltern.
Tolle Show. Jetzt war ich schon mal durchgedrungen in die geheimnisvolle Bilderwelt meines Unterbewussten, und dann gab es da nicht mal etwas Spannendes zu sehen außer Gestrüpp und Kinderunterwäsche.
Plötzlich drang ein Geräusch an mein Ohr. Ich lauschte, konnte aber nicht erkennen, was es war.
Etwa auch wieder etwas
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