Mantramänner
glaube, wir sind da einer ganz großen Sache auf der Spur.« Dann wandte er sich an Frau Stöver.
»Sie-ben-und-zwan-zig Prozent«, sagte er mit Nachdruck, »sieben-und-zwan-zig Prozent.«
An diesem Abend wurde es spät, bis ich mein Büro verließ. Während um mich herum die Schritte verebbten, Telefonklingeln weniger und Stimmen leiser wurden, arbeitete ich an neuen Wortbausteinen voller Seele, Mitgefühl und Freundlichkeit. Um kurz nach neun Uhr abends war ich auch endlich in der richtigen Stimmung, eine E-Mail zu schreiben, die ich schon lange vor mir herschob. Ich suchte in meinem Posteingangsfach nach dem Betreff »Unser Verhältnis« und klickte auf »Antworten«.
»Lieber Papa«, schrieb ich, »es hat mich gefreut, von Dir zu hören. Ruf mich einfach an, ich bin gespannt auf Deine Neuigkeiten.«
Ich zögerte lange. Dann klickte ich wieder auf Abbrechen. »E-Mail im Ordner Entwürfe sichern?«, fragte mein Programm beflissen, und ich nickte seufzend.
Ich war einfach noch nicht so weit.
GARUDHASANA
Die Adler-Stellung (Garudhasana) öffnet das Wurzelchakra und führt damit an eine ganz grundlegende Quelle von Vitalität und geistiger Energie.
Bis zu dem Tag, an dem ich Siv wiedersah, musste ich noch vier Mal schlafen und drei wichtige Dinge erledigen.
Das erste davon war ein Interview mit einem Praktikanten aus der Intranet-Abteilung. Er sollte das gesamte Unternehmen über unser neues Yogaangebot informieren und außerdem etwas über mich für die Sunny Times schreiben, die Mitarbeiterpostille, die alle zwei Monate in unseren Brieffächern landete. Mein Chef hatte wirklich Großes mit mir vor.
Der Praktikant trug Kajalstift wie die frühen Tokio Hotel und Lederjeans wie der späte Mick Jagger, und er hielt sich für einen ganz ausgebufften Reporter. »Ist es echt wahr, dass Yogafrauen lieber atmen als Sex haben?«, versuchte er mich gleich am Anfang zu schockieren. Das hatte sich wohl auf der Firmenfeier herumgesprochen. »Gute Frage, nächste Frage«, gab ich cool zurück und schenkte ihm mein entrücktestes Lächeln.
Schon am nächsten Tag landeten E-Mails in sämtlichen Eingangspostfächern der Sunny-Side-Mitarbeiter, Betreff: Joga für alle. Ich nahm ihm das nicht krumm. Wenn ich mich als spirituelle Lehrerin ausgeben konnte, konnte auch ein Bürschchen mit Rechtschreibschwäche und ausgeprägter Stilunsicherheit in der inneren Kommunikation arbeiten.
Punkt Nummer zwei: ein Plan für die Bärchentasse. Die hatte ich
nämlich tatsächlich gefunden. In der Toilette in unserem Stock, auf einer Ablage oberhalb der Spülung, hinter einer Rolle kratzigem Ersatzklopapier. Keine Ahnung, wie die dort hingekommen war. Natürlich hätte ich sie einfach zurückgeben können und so tun, als hätte ich mit der fingierten Entführung nichts zu tun. Aber das war mir zu billig. Bis mir etwas Besseres einfiel, konnte sie es sich in meiner Schreibtischschublade gemütlich machen, in Gesellschaft einer Flasche Nagellackentferner, eines nie benutzten Taschenrechners mit Euro-Mark-Umrechnungsfunktion und eines Stapels druckereifrisch verpackter Visitenkarten, die ich niemals brauchte.
Punkt drei: Recherche. Auch wenn ich zwei von den Studios schon kannte, in denen Siv unterrichtete – ich wollte mir alle drei noch einmal genauer anschauen. In der Abgeschiedenheit meines Büros.
Zuerst nahm ich mir die Nirvana Lodge vor. Dort, wo ich mit Nadine meiner Kundalini-Schlange nachgespürt hatte. Komisch, dass die einen Kurs beim hornhautfüßigen Zauselbart belegte, wenn es auch einen so hübschen Yogalehrer wie Siv gab. »Finden Sie Ihre innere Mitte – im Bürgermeister-Dierksen-Weg 17!«, warb das Studio auf seiner Website. Ach, da war die abgeblieben. Kein Wunder, dass ich schon mein ganzes Leben lang so unausgeglichen war.
Man konnte sich sogar einen zehnsekündigen Stummfilm vom Übungsraum anschauen, bei dem die Kamera hektisch hin und her schwenkte. Die Kamera war jedenfalls noch auf der Suche nach ihrer inneren Mitte. Dafür war’s ein Traum von einem Raum. Altes Industriegebäude mit Backsteinwänden, lichtdurchflutet, Parkett. So schön hatte das in Wirklichkeit gar nicht ausgesehen. Ich klickte die Fotos der Yogalehrer durch. Der Zausel war dabei, Siv nicht. Sein Name erschien nur auf dem Kursplan.
Als Nächstes googelte ich Freddys Fitnessfarm, brach aber schon auf der Übersichtsseite wieder ab. Das war immer noch nicht mein Laden. Zu viele schwitzende Steves auf Ergometern, zu bunte Getränke in der
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