Marathon Mosel
Hauptmarkt und Basilika waren seine Orientierungspunkte. Immer wieder wanderten seine Augen zu seiner selbst erstellten Karte, die neben dem Rechner auf dem Tisch ausgebreitet lag. Dort hatte er akribisch sämtliche Einschläge verzeichnet, die er nach der Auswertung unzähliger Luftaufnahmen ermittelt hatte.
Eine englische Datenbank mit vielen tausend Luftaufklärungsfotos war vor nicht allzu langer Zeit ins Internet gestellt worden. Sie hatte den deutschen Behörden bei ihrer Suche nach Blindgängern nicht zur Verfügung gestanden.
Ben hatte viel Geduld aufbringen müssen. Es waren Jahre vergangen, bis er zu dem Punkt gelangt war, an dem er heute war. Und immer war die Hoffnung da gewesen, es könne sich etwas an der Situation seines Volkes ändern. Im Rückblick betrachtet, hatte sich tatsächlich etwas geändert, aber nur hin zum Schlechten. Und seine Frau und seine Kinder, die würden nie wieder lebendig werden.
*
In der Wohnung war es ruhig. Durch die Küchentür sah Walde auf die Terrasse. Annika schien noch fit zu sein. Sie spielte mit Marie das endlose Fallenlassen-und-wieder-aufheben-Spiel. Jo saß draußen auf dem Rasen.
Walde nahm eine Dusche und zog sich bequeme Kleidung an.
Doris war noch immer nicht zurück, als Walde zu Marie auf die Terrasse hinaustrat. Annika streckte ihm ihre speckigen Ärmchen entgegen. Er nahm sie auf den Arm. Ihre Kopfhaut roch noch so angenehm wie in den ersten Wochen nach der Geburt.
Doris streckte den Kopf aus der Küchentür. »Was macht die Prinzessin?«
»Du kannst noch unter die Dusche.«
»Deckst du den Tisch und sorgst für die Getränke?«, forderte sie Walde auf. »Der Nudelauflauf steht schon im Backofen.«
Später beim Essen erzählte Doris, wie sie mit Steffens und Guy Peffer bis zur Pfalzeler Brücke gelaufen war. Dort hatten die beiden dunklen Limousinen, die sie bereits an den Moselkränen gesehen hatten, den gesamten Tross abgeholt. Der Außenminister hatte es sich nicht nehmen lassen, Doris zu Hause abzusetzen. Sie schwebte immer noch in höheren Sphären.
Dienstag, 22. Juni
Unter der Headline HASEN AUS EIGENEM STALL las Walde, dass die als Tempomacher beim Trierer Marathon verpflichteten Läufer aus Kenia kamen. Er hatte den Sportteil aus der Zeitung gefischt und löffelte nun beim Lesen sein Müsli. Doris und Annika schliefen wieder. In der Morgendämmerung hatte Walde im Halbschlaf mitbekommen, dass Doris das Kind mit einer frischen Pampers versorgt hatte.
Über 5.000 Voranmeldungen lagen bereits für den Marathon vor. Ein Interview mit Ralf Steffens folgte auf der nächsten Seite. Daneben stand eine Auflistung der schnellsten Läufer mit Startnummer und Bestzeit. Das Marathonfieber verdrängte die sonst hier dominierenden Sportarten.
Walde stellte sein Geschirr in die Spülmaschine, räumte den Tisch ab und brachte die Zeitung wieder in Ordnung. Dabei sah er das Foto auf der ersten Seite des Lokalteils: Der Holzstoß, dahinter das Wäldchen. Walde beugte sich tiefer über das Foto.
»Mist«, fluchte er. Da war die Plane zu sehen, mit der das Opfer abgedeckt war. Wie war die Presse an dieses Foto gekommen? Nur einer hatte Gelegenheit gehabt, diese Aufnahme zu machen. Das Gelände war erst für die Presse freigegeben worden, als die Leiche bereits abtransportiert war.
*
»Wir sollten die Terrorwarnung für den Marathon ernst nehmen.« Walde stand im Büro des Polizeipräsidenten. Monika, die Pressesprecherin, reichte Stiermann ein Papier. Wahrscheinlich handelte es sich dabei um die Erklärung, die nach der Pressekonferenz an alle Medien rausgehen sollte, die keinen Vertreter entsandt hatten.
»Wer sagt, dass wir das nicht tun?« Stiermann setzte seine Kaffeetasse hart auf den Unterteller. Monika blieb neben dem Schreibtisch stehen.
»Bei den derzeitigen Sicherheitsbedingungen kann ich dafür keine Verantwortung übernehmen.«
»Das hat auch niemand von Ihnen verlangt.«
»Aber es könnten Terroristen im Munitionslager gewesen …«
»Herr Bock, was heißt hier aber?«, unterbrach ihn Stiermann. »Wenn ein Anschlag geplant sein sollte, dann müssen wir ihn verhindern. Wie kommen Sie darauf, dass ausgerechnet der Marathon das Ziel sein könnte? Am Samstagabend sind mindestens soviel Leute beim Altstadtfest wie am Sonntagmorgen beim Marathon.«
»Dann muss auch da etwas getan werden!«
»Und was ist mit den Antikenfestspielen oder der Landesgartenschau und dem Jazzfestival im Brunnenhof, den Basketballspielen in der Arena, den
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