Marathon Mosel
Europa bleiben, wahrscheinlich Richtung Kroatien oder auch Skandinavien reisen. Flüchten war kein treffender Ausdruck für das, was er tun musste, wenn hier alles vorbei war. Es gab für ihn keinen Grund zur Eile. Seine Kraft lag in der Ruhe. Er fasste sich in den Schritt und lächelte.
Vor dem Haus legte er sich die Fototasche über die rechte Schulter. Die Kamera hatte er sich um den Hals gehängt.
Kaum auf der Straße, kam er sich lächerlich vor. Er zog den Kameragurt über den Kopf und hängte ihn an die linke Schulter. Nach wenigen Metern lief er die Stufen zur Fußgängerunterführung hinunter und schlug den Umweg durch die Porta Nigra ein, wie das die meisten Touristen taten. Alle anderen, die zu dieser Zeit, kurz vor neun Uhr, unterwegs waren, wählten den direkten Weg zu ihren Arbeitsplätzen in den Geschäften und Büros der City.
Die Morgensonne tauchte die stadtauswärtige Seite der Porta Nigra in ein warmes Licht. Ben musste über die vom Tau nasse Wiese bis an den kleinen Zaun zur Straße zurückgehen, um die Schokoladenseite des Römertors komplett ins Objektiv zu bekommen.
Beim Durchschreiten der hohen Bögen sah er in die zum Leben erwachende Simeonstraße. Die ersten Händler schoben ihre Straßenware vor die Schaufenster auf das Pflaster. Zulieferer nutzten die Zeit, bis die Fußgängerzone ab elf Uhr für jeglichen motorisierten Verkehr gesperrt war. Auf einem Blumenkübel saß ein Mann mit zotteligem Bart und fütterte einen Mischlingshund. Ben blieb an einem Drehständer mit Sonnenbrillen stehen. Ein Martinshorn dröhnte von den Straßen des Alleenrings herüber. Er ging ruhig weiter. Vom Markt her rasten zwei Polizeiwagen heran. Das Sirenengeheul schwoll an. In den gegenüberliegenden Schaufenstern spiegelte sich das Blaulicht. Ben schaute sich um. Hinter ihm bremsten weitere Streifenwagen. Er war auf der Hut. Die Kamera hängte er sich um den Hals und die Fototasche an die linke Schulter. Nun hatte er den rechten Arm frei.
Autotüren wurden aufgerissen. Polizisten stürzten heraus. Ein Teil der Uniformierten lief hinter die Arkaden des gegenüberliegenden Kaufhauses. Die beiden vom Hauptmarkt kommenden Wagen stoppten vor denen ihrer Kollegen.
Ben hatte das Atmen vergessen. Nun spürte er, wie sein Herz raste. Wenn er jetzt umkehrte, machte er sich verdächtig. Er wagte nicht, den Reißverschluss der Tasche zu öffnen.
Die Polizisten verständigten sich mit Handzeichen. Zwei von ihnen kamen auf Ben zu. Er sah die Aufgeregtheit in ihren Gesichtern. Die Waffen steckten noch in den Koppeln an ihren Hüften. Wie schnell konnte er die Waffe ziehen? Wo gab es hier Deckung? Sollte er in ein Geschäft fliehen?
Die beiden Polizisten bedeuteten ihm, stehen zu bleiben.
Ben hob die Handflächen in Bauchhöhe. Die Polizisten waren jetzt so dicht vor ihm, dass er sie im Nahkampf mit zwei gezielten Tritten ausschalten müsste.
»Die Straße wird abgesperrt. Bitte verlassen Sie das Gelände!«, forderte ihn einer der beiden auf.
Ben bemerkte, wie auch andere Passanten angehalten und die Polizeiwagen zurückgesetzt wurden. Ein Polizist lief mit einer Rolle rot-weißen Absperrbandes an ihm vorbei.
Ben nickte stumm und trat den Rückweg an. Die Polizisten folgten ihm und hielten weitere Passanten auf.
*
Gabi erreichte den Hof mit deutlichem Vorsprung vor Harry. Sie fasste in die Handtasche und drückte schon im Herausnehmen die Fernbedienung an ihrem Autoschlüssel. Die Ecklichter ihres Roadster flackerten kurz auf.
»Wir nehmen den da.« Harry hielt auf einen silbergrauen Mercedes zu. Als Gabi nicht reagierte, fügte er hinzu: »Walde kommt mit.«
»Der muss doch …«
»Jahaa«, sang Harry mit hohem ersten und tieferem zweiten A, während er die Fahrertür öffnete. Walde und Grabbe stiegen hinten ein, Gabi setzte sich auf den Beifahrersitz. Das Martinshorn heulte. Noch bevor sie ihre Tür zuschlagen konnte, fuhr Harry los.
»Ich hätte den Mercedes auch fahren können«, maulte Gabi.
»Nicht mit diesen Schuhen! Die Absätze sind vollkommen ungeeignet für die Bedienung der Pedale.« Harry deutete auf ihre Pumps.
»Ich kann dir damit ja mal in den Allerwertesten treten, damit du sie schätzen lernst.«
»Und nicht mit diesem Rock! Der ist viel zu eng und lässt nicht genug Beinfreiheit«, fuhr Harry unbeirrt fort.
An der Kreuzung vor dem Paulusplatz staute sich der Verkehr Richtung Innenstadt und Mosel.
»Ach ja, heute werden die Markierungen aufgebracht.« Harry wendete den Wagen mit
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