Marathon Mosel
Werkzeug fallen lassen. Er bückte sich. Seine Hände zitterten. Den Bund mit den feinen Dietrichen fand er schnell wieder. Aber mit dem Schloss dauerte es eine Zeit, weil er seine Hände nicht ruhig halten konnte. Endlich ging der Bügel hoch. Ben stürmte vorwärts. Draußen zwitscherten bereits die Vögel. Am Ende des Gangs lag die Treppe im schwachen Licht der Dämmerung. Als er den Rucksack umhängte, bemerkte er die Waffe im Hosengürtel. Er steckte sie ins Futteral. Seine Uhr zeigte kurz nach fünf Uhr.
Langsam dämmerte ihm, was soeben passiert war. Er musste unter allen Umständen versuchen, an den Fotografen heranzukommen.
Ben setzte über das Eingangstor der Anlage. Niemand war im Park zu sehen. Er rannte zum nahen Ausgang, der durch einen Bogen der hohen Stadtmauer zur Allee hin führte. War da gerade jemand in der Unterführung verschwunden?
Er spurtete los. Der Weg war feucht. In der Kurve vor der Unterführung drosselte er das Tempo. An der abwärts führenden Rampe blieb er stehen, bückte sich tief hinunter. Der Meißel in seinem Rucksack klirrte gegen den Hammer. Über ihm überquerte ein Sattelschlepper den Fußgängertunnel.
Am Ende der Unterführung stand ein junger Mann unbewegt vor einer Wand. Ben nahm die Pistole hoch und zielte. Er schätzte die Entfernung auf fünfzehn bis zwanzig Meter. Das war weit, aber nicht zu weit. Es blitzte.
Der junge Mann nahm die Kamera herunter, trat ein paar Schritte zur Seite, weiterhin das Gesicht zur Wand gerichtet.
Es klickte leise, als Ben den Sicherungshebel löste. Ein Radfahrer kam in hohem Tempo die Rampe auf der gegenüberliegenden Seite heruntergesaust. Ben senkte die Waffe. Im Laufschritt überquerte er die Straße und stieg auf der anderen Seite vorsichtig die Seitentreppe hinab. Bevor er um die Ecke in den Tunnel bog, hörte er schlurfende Schritte.
In der gleichen Sekunde, in der der junge Mann auftauchte, war Ben schon bei ihm und schlug ihm die Handkante unter den Adamsapfel. Wie vom Blitz gefällt sackte das Opfer zu Boden. Der Kopf prallte hart auf die Fliesen.
Ben zielte mit der Waffe auf den Kopf des jungen Mannes. Er schaute in das sommersprossige Gesicht mit den geschlossenen Augen. Darüber hielt ein Stirnband die roten Locken zurück. Für einen winzigen Moment erinnerten sie ihn an die Locken seines Sohnes, bevor die amerikanische Stingerrakete das Haus dem Boden gleichgemacht hatte. Sie war als Vergeltung für ein Bombenattentat abgefeuert worden. Auge um Auge … Unschuldige Opfer forderten nach noch mehr Unschuldigen. Dennoch hatte sich Ben dem Widerstand angeschlossen. Israel und die USA hatten ihm seine friedliche Existenz genommen.
Ben ließ die Sicherung einschnappen. Er nahm dem Jungen die Kamera ab. Nach mehreren Versuchen erschienen auf dem Display Fotos von Graffiti, tanzenden Leuten, aus nächster Nähe aufgenommene Grimassen von Partygästen und dann das Gitter. Dahinter war nur ein heller Schemen zu sehen. Dennoch löschte Ben das Foto und noch weitere davor und dahinter. Unter dem Kopf des Jungen hatte sich eine Blutlache gebildet.
Mittwoch, 23. Juni
Robert kramte in der Umhängetasche des Patienten. Zwischen Tempos und Gummihandschuhen fischte er eine Kamera und zwei Spraydosen heraus.
»Dafür habe ich Sie nicht gerufen!«, protestierte die Ärztin. »Der junge Mann wurde überfallen. Das rechtfertigt nicht, dass Sie seine Sachen durchstöbern.«
»Ich möchte nur seine Identität herausfinden.« Robert hatte ein Portemonnaie gefunden. Es enthielt lediglich ein paar Euro. »Dann müssen wir ihn fragen, wenn er wieder aufgewacht ist.« Er deutete auf das Bett, in dem nur ein Schopf roter Haare über einem breiten weißen Verband zu sehen war. Der Patient hatte die Decke bis über die Stirn gezogen.
Gabi legte ihrem Kollegen die Hand auf den Arm und flüsterte: »Lass, Rob, daraufkommen wir später zurück.«
Draußen auf dem Gang, wo die morgendliche Krankenhaushektik herrschte, wandte sich Gabi an die Ärztin: »Hat er Ihnen gesagt, was passiert ist?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass er auf dem Weg zum Bahnhof von einem Krankenwagen aufgegriffen wurde. Jemand hat den Notruf per Handy abgegeben.«
»Wer hat angerufen?«
»Es war niemand mehr da, als der Krankenwagen kam, wahrscheinlich jemand auf dem Weg zur Arbeit. Der junge Mann heißt Lutz, den Rest wird er uns später sagen.«
»Vorname oder Nachname?«
»Ich denke mal, dass Lutz sein Vorname ist. Ich hab’ ihn erstversorgt.
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