Marathon Mosel
Sportschuhe.«
*
Ein Fremder starrte ihm aus dem Spiegel entgegen. Ben befühlte die raue Haut unter seiner Nase. Seit ewigen Zeiten war dort ein Schnurrbart gewesen. Seine Hand glitt vom Nacken bis zur Stirn über stacheliges Kopfhaar, das er mit dem Bartschneider auf fünf Millimeter Länge gekürzt hatte. Nicht die kleinste Locke war übrig geblieben.
Der Geruch aus dem Kanal hatte sich verflüchtigt, aber das Klingeln in seinem Kopf hielt beharrlich auf hoher Frequenz an. Dazu taten ihm der Rücken und die rechte Schulter weh. Seine persönlichen Sachen lagen in den Satteltaschen. Bevor er den MP3-Player dazupackte, setzte er ihn auf. Solange Jacques Brel ’Ne me quitte pas’ sang, war das Klingeln verschwunden.
Die intensivste Fahndung würde an Flughäfen und Bahnhöfen laufen. Im schlimmsten Fall wurden Kontrollstellen an den Autobahnen und Fernstraßen errichtet. In wenigen Stunden würde er einer von tausend harmlosen Radtouristen sein, die auf den Wegen entlang der Mosel unterwegs waren.
*
Walde schaute auf seine Sportuhr, die er bereits trug, ebenso wie die Laufsocken. Er stellte sich im Kopf eine Liste der Dinge zusammen, die er nicht vergessen durfte: das Handy, die Beutel Powergel, seine Waffe. Doris würde es nicht gut finden, wenn er sie im Netz des Babyjoggers … Jetzt wurde ihm bewusst, dass es schon nach acht war.
»Sorry«, sagte er in der Diele zu Doris, die er im Lauftrikot mit Startnummer und Laufschuhen antraf. Annika saß auf dem Teppich und lutschte an einem Biskuit. Auf ihrem Hemdchen prangten die aufgestickten roten Ziffern 001.
»Das hat ihr Marie geschenkt«, sagte Doris. Sie packte Biskuits, Trinkflaschen, Ersatzschnuller, Bananen und Powergel in den Babyjogger.
Walde zog sich um und nahm die Waffe aus der Schublade.
»Das ist doch nicht dein Ernst?«, fragte Doris, als sie Walde mit Pistole und Futteral in die Diele kommen sah.
»Die muss ich mitnehmen.«
»Aber du trägst doch sonst nie eine?«
»Heute ist es nötig.«
»Die kommt aber nicht zu Annika in den Wagen!«
»Okay, dann schnall’ ich sie um«, Walde streifte sein Laufhemd über den Kopf und legte sich den Pistolenhalfter über die nackte Schulter.
Doris schüttelte resigniert den Kopf: »Du spinnst. Denk’ dran, deine Brustwarzen abzukleben.« Sie reichte ihm zwei Pflaster.
*
Die vierspurige Straße vor Bens Ferienwohnung war für den Verkehr gesperrt. Eine Truppe Polizisten in Schutzkleidung marschierte vorbei und nahm keine Notiz von dem gepflegt wirkenden Mann im blauen Trainingsanzug und Laufschuhen, der ihnen den Vortritt ließ. Ben überquerte die Fahrbahnen, die durch einen schmalen Grünstreifen getrennt wurden.
Er schaute sich nochmals zum Haus um. Die Figur war ihm noch nie aufgefallen, die etwas versetzt über der Haustür in einer Nische thronte. Der bärtige Mann mit dem Schlüssel erinnerte ihn an das Motiv vom Kanaldeckel. Einer der Polizisten auf dem Vordach des Hotels gegenüber der Porta Nigra hatte sein Fernglas auf ihn gerichtet.
Eine Gruppe Läufer schlappte in langsamem Dauerlauftempo an Ben vorbei. Er ging schneller und konnte mit ihnen mithalten. An der Tribüne vor der Porta wurden Lautsprecher auf hohe Stative geschraubt. Daneben war ein riesiges Transparent mit der Aufschrift ZIEL über die Torbögen gespannt. Die Mitte der Simeonstraße säumte ein mit Transparenten behängter Laufkanal. Die Läufergruppe vor ihm blieb stehen und machte, an das Geländer gestützt, Dehnübungen.
Ben wollte gerade umkehren, als ihm ein Mann auffiel. Es war der Gang: leichtes Hohlkreuz zum Austarieren des gewaltigen Bauchs, rhythmisches Schwenken der mit offenen Handflächen baumelnden Arme. War das Elmar, der in Jeans und dunkelblauem T-Shirt Richtung Hauptmarkt ging? Was wollte der denn hier?
Ben folgte dem Mann. Als er an einem engen Durchlass zwischen den Absperrungen der Laufstrecke auf die andere Straßenseite wechselte, erkannte er Elmars Vollmondgesicht.
Ben musste ein paar Leute vorlassen und sah, wie der Kanalarbeiter hinter einer geschlossenen Bude verschwand. Er lief hinterher und die Treppen hinunter. Elmar hatte bereits die Stahltür aufgeschlossen.
»Ich hätt’ Sie gar nit erkannt«, sagte Elmar, als er Ben bemerkte.
»War zu Friseur.« Ben folgte dem Kanalarbeiter und schloss die Tür hinter sich.
Elmar schaute skeptisch: »Dat gefällt mir nit.«
»Haare zu kurz?«
»Dat, wat se die ganze Zeit im Radio bringen, Terrorgefahr und so.«
Ben ging einige Schritte den
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