Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Marathon

Marathon

Titel: Marathon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Frangenberg
Vom Netzwerk:
eine
Geschmacksverirrung her? Aus Amerika, nahm Kusnezow an, ohne es
genau zu wissen. Eine bessere Erklärung hatte er
nicht.
    So sehr er seine
Reisen in den Westen genoss, so sehr erleichterte ihn auch immer
die Gewissheit, hier nicht dauerhaft bleiben zu müssen. Zu
widerwärtig war ihm die Dekadenz und Gleichgültigkeit,
die hier das Leben am Laufen hielt. Die Alternative zu diesem Leben
kannte er noch nicht. Doch er war sich sicher, dass es eine geben
musste.
    Es hatte Phasen in
seinem Leben gegeben, wo er all das, worauf es ankam, in allen
Teilen seines Körpers gespürt hatte. Wenn sie ihn allein auf
irgendein tschetschenisches Dach oder in ein zerbombtes Haus gelegt
hatten, wo er stundenlang die gleiche Stelle durch sein
Zielfernrohr fixieren musste, um nicht den Moment zu verpassen, in
dem er abdrücken musste. Wenn ihn jemand entdeckt hätte,
hätte er sich ohne Probleme an ihn heranschleichen und ihn
hinterrücks abknallen können, so konzentriert war er auf
das Ziel, das er treffen sollte. 
    Ein Scharfschütze
war gleichermaßen mächtig wie wehrlos. Und er war ganz
nah dran an diesem wunderbaren Zustand, an nichts
Nebensächliches mehr denken zu müssen. Den Kopf
regelrecht zu leeren, um nur noch zu erfahren. Kusnezow wollte
nicht aus dem lernen, was war, sondern aus dem, was ist. Auf
Augenhöhe mit der Gefahr, zeitgleich mit dem, was passiert.
Während man die Erfahrung macht, schon wissen, was man mit ihr
anfangen will.
    Wenn er in Position
gegangen war, da lag und zielte, reduzierte sich sein Lebensziel
auf den Tod eines anderen. Ein Gewissen, das ihn hätte plagen
können, kannte er nicht. Deshalb hatte er auch nie daran
gezweifelt, dass er das, was er am besten konnte, auch nach seiner
Rückkehr weitermachen wollte. Er musste nicht in dem Elend
enden, das all seine Kollegen erlebten, wenn sie nach Hause
zurückkamen, als Helden ohne Verwendung, als lebendige
Erinnerung an einen Krieg, den alle Russen lieber verdrängen
wollten. Wer länger als sechs Monate in Tschetschenien war,
hatte gemeinhin eine ganz schlechte Prognose. Die Erste, die den
Soldaten im Stich ließ, war die Frau, die unter großer
Nervenlast auf ihn gewartet hatte und dann einen Mann
zurückbekam, der nicht mehr derselbe wie früher war. Aus
der Entfremdung wächst die Aggression.
    Als er den Alter Markt
in der Altstadt erreichte, sah er ein kleines Mädchen auf den
Stufen zum Denkmal von Jan von Werth, das einen deutlich
älteren Jungen anbrüllte. Es dauerte nur Bruchteile von
Sekunden, bis Kusnezow neben dem etwa Fünfzehnjährigen
stand, der das Mädchen fest am Arm hielt und offenbar
bedrohte. Diesmal lächelte er nicht, als er dem Jungen in die
Augen sah, während er ihn mit der rechten Hand am Ohr packte und es nach
vorne drehte. Sofort ließ der Junge das Mädchen los und
sich von Kusnezow auf die Knie drücken. Dem Jungen schossen
die Tränen in die Augen.
    Kusnezow konnte viel
ertragen. Doch wenn Kindern Gewalt angetan wurde, verlor er
unmittelbar die Kontrolle. Kalte Wut stieg in ihm auf, während
ihm Bilder aus seinem Elternhaus durch den Kopf schössen. Er
sah seinen Vater, wie er seine Schwester schlug, wenn sie wieder
einmal nicht spurte. Jahrelang hatte Kusnezow seinen
gewalttätigen Vater ertragen und sich beherrscht. Bevor er
jedoch ging, im Wissen, dass er niemals zurückkehren
würde, hatte er seinen Vater mit zwei kraftvollen Hieben durch
die schäbige Wohnstube seiner Eltern geschlagen. Als der Mann
blutend in dem in tausend Stücke zersplitterten Glastisch lag,
hatte er auf den Fußboden gespuckt und sich mit einem
Kopfnicken von seinen Eltern
verabschiedet.   
    Es dauerte eine Weile,
bis Kusnezow die anderen Jugendlichen wahrnehmen konnte, die sich
um sie herum aufgebaut hatten. Sie baten ihn, loszulassen. Bevor er
seinen Griff lockerte, suchte er nach dem Mädchen. Doch das
schien längst weggelaufen zu
sein.       
    »Sie hat mich
bestohlen«, heulte der Junge, als er in sich
zusammensackte.
    Kusnezow verstand
nicht gleich.
    »Sie hat mein
Geld gestohlen«, stammelte der Junge. »Ich wollte es
wiederhaben.«
    Die anderen
Jugendlichen halfen ihm auf die Beine. Sie schienen genau wie der
weinende Junge zu einer Schülergruppe zu gehören, die
Köln besichtigte. Kusnezow hatte eine Taschendiebin befreit,
die einem Bestohlenen nicht sein Geld zurückgeben wollte.
Niemand konnte ihm anmerken, wie er sich fühlte. Nach
außen blieb er gefasst und ungerührt, doch innerlich
stieg in ihm die kalte Wut

Weitere Kostenlose Bücher