Marathon
in
vor Angst weit aufgerissene Augen. Das Seil um den Kopf hatte die
Frau nicht nur in diese Körperhaltung gezwungen, es hielt auch
einen Knebel.
»Sie lebt,
Gröber, Mann, sie lebt!«, brüllte sie außer
sich.
Ungeschickt und
erfolglos versuchte sie den ersten Knoten zu lösen, um die
Frau von dem Knebel zu befreien. Gröber war schneller. Er
erkannte, dass er das erste Seil zunächst vom Bettpfosten
binden musste, um Spiel für den Knebel zu bekommen. Als sie
der Frau das Tuch aus dem Mund ziehen konnten, rang sie wie ein
aufgetauchter Apnoe-Taucher nach Luft. Sie musste Stunden in dieser
Lage verbracht haben. Es dauerte, bis sie zu einem
gleichmäßigen Atem durch den Mund zurückfand. Jetzt
atmete sie laut und stöhnte. Vor Schreck hatte es Remmer und
Gröber die Sprache verschlagen.
Erst als Gröber
begann, die restlichen Stricke zu lösen, fand Remmer ein paar
beruhigende Worte.
»Bleiben Sie
ganz ruhig liegen. Es ist vorbei. Wir sind von der
Polizei.«
Während sie die
Nummer der Leitstelle in ihr Handy tippte, um einen Arzt kommen zu
lassen, wanderte sein Blick über das voll geblutete Bett zu
der gegenüberliegenden Wand. Der Mörder hatte die Frau so
am Bett gefesselt, dass sie nichts von dem gesehen haben konnte,
was in der anderen Betthälfte geschehen war. Sie hatte auch
nichts von dem sehen können, was der Täter offensichtlich
nach dem Mord an Klaus Leuschen getan hatte. An der Wand neben der
Zimmertür, durch die sie eingetreten war, prangten zwei
große blutrote Zahlen. Wieder akkurat und exakt gemalt: keine
Elf, keine Sechzig, sondern eine Zweiundzwanzig.
Remmer brauchte ein
paar Sekunden, um der Kollegin in der Leitstelle zu antworten, die
sie mit rüdem Ton zum Sprechen
aufforderte.
»Schicken Sie
einen Arzt und die Spurensicherung«, flüsterte sie in
den Hörer und gab die Adresse durch.
Die Frau musste
bemerkt haben, dass Remmer Ungeheuerliches gesehen hatte. Nachdem
Gröber ein weiteres Seil abgebunden hatte, nutzte sie die
wiedergewonnene Freiheit, um sich umzudrehen. Als sie das Blut
ihres Mannes sah, begann sie zu schreien. Sie holte nach, was ihr
der Täter stundenlang verwehrt hatte. Sie schrie vor Angst,
vor Panik und Schmerzen. Sie schrie, weil sie genau wusste, was
hier passiert war, weil sie neben Klaus Leuschen liegen musste, als
der wie ein Tier von seinem Mörder im Bett wie bei einer
Schächtung abgeschlachtet worden
war.
Remmer wusste nicht,
wie sie die Frau beruhigen sollte. Sie drückte sie fest an
sich und ließ sie einfach schreien. Erst jetzt bemerkte sie,
dass sie selbst genau wie ihr Kollege, der im Bett hockte, um das
letzte Seil zu lösen, über und über mit Blut
beschmiert war. Beide knieten im Blut des Toten, den sie neben
einer Mülltonne eines ehemaligen Industriehofes in der
Bismarckstraße gefunden hatten.
Gröber rutschte
vom Bett auf den Fußboden und atmete tief durch. Jetzt, wo
alle Stricke gelöst waren, merkte er, wie übel ihm war.
Der Ekel kletterte langsam von der Galle in seinen Hals. Alles
schien sich zu bewegen, die roten Zahlen, der Raum, das Bett, sein
Magen. Mühsam richtete er sich auf. Um zum Fenster zu
gelangen, musste er sich an der Wand abstützen. Er riss den
zugezogenen Vorhang auf, um das Fenster zu öffnen.
Während er mit der rechten Hand nach dem Fenstergriff suchte,
wurde sein Blick von einem Augenpaar angezogen. Auf dem
Bürgersteig stand ein hagerer Mann und starrte ihn an. Es
schien, als hätte er auf den Augenblick gewartet, dass jemand
im ersten Stock dieses Hauses genau dieses Fenster öffnen
würde, nachdem er eine Frau von ihren Fesseln befreit hatte.
Gröber rang nach Luft, er wollte rufen, doch er brachte keinen
Ton heraus. Wer war das? Gröber versuchte, seine Gedanken zu
sortieren. Der Mann auf der Straße schien zu nicken, ganz leicht, so
wie man jemandem zur Begrüßung zunickt. Dann drehte er
sich um, ging auf die andere Straßenseite, um in einen
dunkelblauen Kombi einzusteigen.
»Das
Nummernschild. Merk dir das Nummernschild«, forderte er sich
selbst auf, doch er konnte das Kennzeichen nicht erkennen, als der
Wagen durch die enge Straße wegfuhr.
»Da war ein
Mann«, stammelte er endlich, als der längst weg
war.
15
Die Morgensonne
spiegelte sich im Glas des Dachs dieses tollen Denkmals deutscher
Ingenieur- und Baukunst. Asis Kusnezow strich sich das Jackett
seines grauen Anzugs glatt und starrte an die Decke des Kölner
Hauptbahnhofs, die keine war. Der Russe liebte es, immer
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