Marathon
Anblick seiner
Mitwelt fiel ihm schwer. Das änderte sich auch nicht, als er
nach einer furchtbaren Straßenbahnfahrt endlich die Deutzer
Messehalle betrat, in der er seine Startunterlagen abholen
musste.
Die eine Hälfte
der Menschheit scheint nur noch gelangweilt, die andere rennt nur
noch gehetzt durchs Leben, dachte er, während er durch die
laute Menge schlecht gekleideter Freizeitsportler geschubst wurde.
Diese zweite Hälfte hatte sich hier in Deutz versammelt und
irrte wie bei einem Schlussverkauf in einem großen Kaufhaus
durch die so genannte »Marathon-Messe«, mit der Stadt,
Messe und allerlei ungebetene Firmen, die hier Verkaufstheken
bestückten und bunte Reklame von der Decke baumeln
ließen, Geld an dem Marathonlauf verdienen wollten. Die erste
Hälfte konnte man am besten bei einer Fahrt mit der Bahn
besichtigen, wenn man nicht zufällig das Pech hatte, als
Lehrer in einer Schule voller lustloser Jugendlicher arbeiten zu
müssen. Die meisten Jugendlichen waren seit der Erfindung der
unseligen Playstation vor lauter Langeweile dick und träge
geworden.
Was hätte er
getan, wenn er, wie er es eigentlich immer gewollt hatte,
tatsächlich Vater eines dieser Jugendlichen geworden
wäre, eine dickbäuchige, in der Nase popelnde Tochter im
Haus gehabt hätte oder einen Sohn, der schon nach zehn Minuten
Schulaufgaben die Geduld verloren hätte, weil ihm vor lauter
Spielerei und Ballerei an allen möglichen elektronischen
Geräten die Fähigkeit abhanden gekommen war, seinen
eigenen Grips zur Lösung einer nicht selbst gestellten Aufgabe
einzusetzen? Wohin würde sich diese Gesellschaft entwickeln,
wenn ihr nicht eine Katastrophe einen neuen Sinn geben
würde?
Als er auf die Bahn
gewartet hatte, hatte er einer Gruppe Jugendlicher zugesehen, die
sich um einen Fahrradständer an der Haltestelle versammelt
hatten. Sie saßen auf den Stangen, an denen ein anderer
vielleicht gern sein Rad abgeschlossen hätte, rauchten,
tranken Bier und grölten ab und zu schwer verständliche
Satzfetzen. In der Bahn dann dasselbe Spiel: hässliche
deutsche Achtzehnjährige, betrunkene Erwachsene, die wirres
Zeug vor sich hin lallten, ein paar bauchfreie Blond-Gefärbte,
ein stinkender Junkie, der wenigstens die Fresse hielt. Normale
Menschen, die in der Bahn durchaus noch in der Überzahl waren,
nahm Gassmann gar nicht mehr wahr. Er suchte nach Schmutz, um die
letzten Zweifel zu verscheuchen. Nach all den Jahren der
Verlogenheit, hatte er diesmal richtige, unmissverständliche
Entscheidungen getroffen.
Warum rege ich mich
eigentlich auf?, fragte er sich beim Weg durch die
überfüllte Messehalle.
Er wollte laut lachen,
um seine Anspannung abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht.
Stattdessen quälte er sich zur Anmeldung durch. Jeder
Läufer musste das Gleiche tun, ob er wollte oder nicht. Hatte
man in den letzten Jahren noch die Wahl gehabt, ob man sich so
etwas antun sollte, war man nun gezwungen, diesen Tempel des Sport-
und Wellnesskommerzes zu durchqueren, um seine Startunterlagen
für den Marathon abzuholen. Alle Läufer waren quasi zum
Messebesuch zwangsverpflichtet worden.
32
Vor der Einfahrt zur
Garage, die zu der grau verwitterten Doppelhaushälfte
gehörte, stand ein klappriger alter VW-Bus. Auf dem Dach der
Garage lag ein Boot samt Trailer, offensichtlich aus
Platzgründen dort hingestemmt. Ein kleiner Balkon über
der Garage diente allenfalls noch als Zugang zum Dach, um das Boot
und den Transporttrailer, die dort seit Jahrzehnten zu liegen
schienen, irgendwann mal wieder an eine Anhängerkupplung zu
hängen. Wer sich länger auf diesem Balkon aufhalten
wollte, drohte abzustürzen, so baufällig sah der Anbau
aus. Der Vorgarten war verwildert. Blumen, Sträucher und
Gräser wucherten über den kleinen Gehweg, der zur
Haustür führte.
»Hier wohnt ein
Bastler, der nicht mehr basteln kann«, sagte Remmer,
während sie sich den Weg durch das Vorgartendickicht
bahnten.
Es hatte ein wenig
gedauert, bis sie Gollembeck ausfindig gemacht hatten. Gemeldet war
er unter einer Adresse einer Wohngemeinschaft, in der sich jedoch
keiner der Anwesenden an seinen Namen erinnern konnte. Es musste
eine halbe Ewigkeit her gewesen sein, dass Gollembeck dort
tatsächlich gewohnt hatte. Zumindest konnte sich derjenige,
der von den drei Bewohnern am längsten dort lebte, nicht mehr
an einen Andreas Gollembeck erinnern. Der Student hatte das Zimmer
in der Wohngemeinschaft vor sieben Jahren bezogen.
Weder Einwohnermelde-
noch
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