Marathon
keinen Laut von sich
gab.
Jetzt griff Gassmann
nach dem Messer. Ohne große Mühe konnte er die Waffe in
seine Gewalt bringen, so schnell und einfach, dass er
überrascht innehielt, als das Messer in der eigenen Hand funkelte. Ingo
wurde ganz ruhig. Der Täter war überwältigt. Was
alles möglich ist, wenn man nur will.
Er atmete tief durch.
Es war die Wut auf sich, auf seine Mitwelt, auf die Menschen, die
mit ihrem erbärmlichen Leben seines zur Hölle machten,
die ihn antrieb. Er schaute auf seine Verletzung am Arm, das Blut,
das über sein Hemd und den Mann lief. Wie sollte er das
übermorgen schaffen, wenn er hier literweise Blut verlieren
sollte? In seinem Mund sammelte sich Speichel, den er dem Mann auf
die Kapuze spuckte.
»Soll ich dich
töten?« Er sprach leise und deutlich. Sein Hass war
stärker als die Angst. »Warum wolltest du mich
töten?«
Jetzt sah er sie
wieder, seine Freunde aus alten Tagen. Es schien, als würden
sie auf einem Grabstein sitzen, mit den Beinen schaukeln und ihm
zusehen.
»Sie trauen mir
nicht zu, dass ich dich abstechen kann«, schrie er in die
dunklen Augen des Mannes, die weit aufgerissen durch die Schlitze
der schwarzen Kapuze lugten. Er glaubte, brüllen zu
müssen, weil sonst seine Stimme gezittert hätte.
»Sie glauben, ich könnte das nicht«, sagte er und
nickte den dreien auf dem Grabstein zu. »Was glaubst
du?«
Er setzte das Messer
auf den dunklen Kapuzenstoff unter das linke Auge des Mannes. Er
dachte darüber nach, wie es sein würde, eine scharfe
Klinge über die Haut der Wange zu ziehen. Würde sie sich
wie Papier zertrennen lassen? Er blickte sich um. Niemand
würde jemals herausbekommen, was hier vorgefallen war, oder?
Er erhöhte den Druck auf das Messer. Mit der Linken griff er
nach der Kapuze. Während er sie ihm vom Kopf riss, zerschnitt
die scharfe Messerklinge den Stoff. Er erstarrte.
Die weit aufgerissenen
Augen des überwältigten Mannes waren seine
eigenen.
Schweiß lief ihm
über den ganzen Körper. Sein Speichel schmeckte nach
Dreck und Blut. Er stank widerlich. Wie konnte er am helllichten
Tag einschlafen? Wer tagsüber schläft, riskiert schlimme
Träume, das wusste jedes Kind. Er lag, immer noch im
Bademantel, auf seinem Bett. Der Traum hatte ihn geängstigt,
aber auch
erregt. Er hatte sich dem Tod ganz nahe gefühlt. So oder so
ähnlich musste sich das Ende anfühlen. Er ließ
seine Hand über die rechte Betthälfte streichen, doch da
war niemand mehr. Seine Frau hatte eine Tasche gepackt und war zu
einer Freundin gezogen. Er hatte ihr versprochen, in Kürze die
Wohnung zu räumen, damit sie wieder einziehen
konnte.
Wie lange hatte er
nicht mehr mit seiner Frau geschlafen? Nie mehr würde er mit
seiner Frau schlafen. Nie mehr würde er mit irgendeiner Frau
schlafen.
Mit Willenskraft hatte
er auch geschafft, seine Libido zu besiegen. Dieser Zwang zur
Befriedigung der eigenen Lust, der einen immer wieder in Besitz
nimmt, an nichts anderes denken lässt, einen auf immer neue
Irrwege treiben will, sollte ihn nicht weiter beherrschen. Manchmal
hatte er sehr kämpfen müssen, obwohl seine Frau es ihm
sehr leicht gemacht hatte. Sie schien regelrecht die Lust verloren
zu haben in all den Jahren. Oder war es nur die Lust an ihm? Wenn
ihn wie jetzt doch einmal die Lust gepackt hatte, bereitete er ihr
mit ein paar Handgriffen ein schnelles Ende. Dazu bedurfte es
keiner wilder Verrenkungen, keiner Belästigung eines anderen
Menschen, keiner weiteren verschwendeten Stunde der knappen
Lebenszeit. In höchstens einer Minute war die Sache
erledigt.
Er stand auf und
schaute auf die Uhr. Hatte ihn sein Gefühl, in der Form seines
Lebens zu sein, getäuscht? Warum schlief er zwei Tage vor
einem Marathonstart am helllichten Tag ein? Hatte er sich nur
vorgemacht, dass ihm der Tod der Jugendfreunde wenig anhaben
konnte? Wo war sie hin, die ganze Kraft, die ihn in den letzten
Tagen zu Höchstleistungen angetrieben hatte? Der Tod der drei
Männer nahm ihn mehr mit, als er geglaubt hatte. Dann dieser
Besuch von dieser Polizistin. Wollte sie ihn nun unter
Polizeischutz stellen? Sollte ein Bulle mit ihm durch die Stadt
rennen? Über zweiundvierzig Kilometer in deutlich unter
dreieinhalb Stunden? Eine Begleitung beim neuen persönlichen
Rekord, den er sich vorgenommen hatte? Gab es wohl einen
Polizisten, der so etwas konnte, oder würden sie sich
abwechseln müssen, wie die Schüler bei ihrer
Marathonstaffel?
Während er seinen
Kopf unter den
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