Marathon
Es gibt Schöneres im Leben, dachte sie und versuchte,
sich abzulenken. Sie beschloss, es einmal mit hauchdünnen,
marinierten Lammscheiben zu Reibekuchen zu probieren.
33
Er hatte sich einen
Platz gesucht, an dem er seine Klamotten verstauen konnte, um
direkt von den Messehallen aus einen letzten leichten Trainingslauf
am Rhein entlang machen zu können. Locker war er durch den
Rheinpark bis zur Zoobrücke und dann auf die linke Rheinseite
getrabt, vorbei an der Bastei und einigen Hotelschiffen, die am
Ufer angelegt hatten. Außer ein paar Läufern war kaum
einer unterwegs. Das Wetter blieb regnerisch. Normale Menschen
gingen nicht freiwillig vor die Tür, zu ungemütlich war's
in Köln in diesen Tagen. Die Hoffnung auf ein besseres Wetter
morgen war gering.
Gassmann saß auf
einer Bank und schaute zu den Messehallen auf der anderen Seite des
Flusses hinüber, wo unter irgendeiner Bank seine lange Hose
und eine Jacke lagen. Obwohl ihm solche Distanzen beim Laufen keine
Probleme machten, kamen ihm die dreihundert Meter Flussbreite
unendlich weit vor. Er hatte keine Lust mehr, die Runde zu Ende zu
laufen. Wozu auch? Er war topfit. Daran gab es keinen
Zweifel.
Das Wetter schien
ideal für Angler zu sein. Gleich drei hatten sich vor ihm am
Geländer aufgebaut, ihre Utensilien ausgebreitet und eine
Angel ausgeworfen. Polen oder Russen, schätzte er. Er konnte
die Sprachen nicht unterscheiden. Klar war nur, dass die
tatsächlich das, was sie aus dem Rhein holten, mit ihren
Familien aufessen würden.
Ein Angler durfte es
nicht eilig haben. Also, warum sollte er sich beeilen? Er hatte es
doch nicht eiliger als sie. Dieser Wahn, voranzukommen, dieser
Zwang, sich immer zu bewegen, um der Bewegung willen. Diese
Familienväter hatten sich hierhin bewegt, um sich gerade nicht
zu bewegen. Sie ernährten ihre Familien mit ein paar winzigen
Handgriffen und einem Schlag mit einem kleinen Stück Holz auf
den Kopf eines Fisches, der so dumm war, ihren Angelhaken zu
verschlucken.
Wenn der Mensch
wirklich weise und kräftig werden würde, er könnte
mit dem Wissen, dass er mit jeder Stunde verliert, die
vorübergeht, anders umgehen. Anstatt die Zeit mit Bewegung
auszufüllen, würde er seine Kraft dazu nutzen
können, auf dieser gnadenlosen Bahn der Zeit urplötzlich
innezuhalten. Doch was würde man anfangen mit diesem Gewinn?
Kann man innehalten, ohne stillzustehen? Wie kommt man weiter ohne
diesen Bewegungswahn, der doch Zwang wie Antrieb
gleichermaßen ist?
Gassmann stand auf,
ging zu dem schlecht gekleideten Mann, der ihm am nächsten
stand. Neben ihm stand ein Eimer, in dem tatsächlich zwei
Fische leblos herumschwammen.
»Hallo«,
sagte er, obwohl dem Fremden deutlich anzusehen war, dass er lieber
nicht angesprochen werden wollte. »Der Angler liebt die Ruhe,
ich weiß. Ich hab's auch ganz gern ruhig.«
Der Angler musterte
ihn mit einem mürrischen Blick.
»Haben Sie mal
darüber nachgedacht, warum sich alle Menschen immerzu bewegen
müssen?«, fragte Gassmann.
»Ich nicht
verstehen, was Sie sagen«, gab der Angler zögerlich
Auskunft.
»Was machen Sie
hier, wenn Sie mich nicht verstehen? Warum sind Sie
hergekommen?«
Diese Fragen kannte
der Mann offenbar, wie sein Gesichtsausdruck verriet.
»Ist mir auch
egal, wissen Sie? Angeln Sie nur weiter dreckige Fische. Soll ich
Ihnen sagen, warum alle Menschen glauben, sich immer bewegen zu
müssen?«
Er wartete nicht auf
die Antwort.
»Sie wollen jung
bleiben. Sie rennen gegen das Alter an, verstehen Sie? Das ist
völlig unnötig, denn man läuft doch von ganz allein,
nur eben in eine andere Richtung. Dann schaut man zurück in
seine Vergangenheit und entdeckt so viel Seltsames, das man sich
hätte ersparen können. So viele Täuschungen,
Selbsttäuschungen und Täuschungsmanöver. Aber die
Mühe macht sich keiner. Haben Sie sich diese Mühe schon
mal gemacht?«
Der Mann neben ihm
konnte ihm nicht nur wegen mangelnder Deutschkenntnisse nicht mehr
folgen. Gassmann beugte sich über das Geländer, versuchte
Blickkontakt zu dem Angler aufzunehmen, der ihm jedoch ständig
auswich.
»Sie sollten das
mal tun. Sich hinsetzen und einen Blick zurückwerfen. Klar und
ungeschminkt. Aber vielleicht brauchen Sie das gar nicht.
Schließlich stehen Sie hier und fangen Fische. Das ist auch
schon was. Die Leute sind wie Fische, glaube ich. Sie schwimmen im
Strom, fressen, lassen sich fangen und sterben. Was für ein
Leben. Würden Sie mal zurückblicken, würden Sie
vielleicht
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