Marathon
ein Fahrrad durchs Gewühl und musste sich dafür von
jedem, den er bat, ein wenig zur Seite zu gehen, anpöbeln
lassen. Viele der Läufer schienen nervös und angespannt,
mancher diskutierte, ob er nun ohne oder mit Regenschutz laufen
sollte. Jeder hielt Ausschau nach anderen mit gleicher Farbe auf
dem Startnummernleibchen, um sich die Sorge vorm Zuspätkommen
zu nehmen. Ingo Gassmann atmete tief durch, solch ein
Menschenauflauf auf engstem Raum war nichts für ihn. Fremde
Menschen berühren zu müssen, war ihm ein Groll. Und hier
hatte er permanent Körperkontakt. Von hinten schob eine Frau
in hautengem Trikot, von rechts rempelte ein Mann in einem blauen
Müllsack, und links schaukelte ein überdimensional
großes Handy hin und her. Drinnen steckte ein Mensch, der
für einen Telefonanbieter Werbung laufen wollte. Gassmann gab
ihm unauffällig, aber heftig einen Stoß zurück.
Beim zweiten Mal stolperte das Telefon und fiel um Hilfe schreiend
aufs Display. Zwei Jugendliche bewahrten es davor, kaputtgetrampelt
zu werden, indem sie ihm wieder auf die Beine
halfen.
Gassmann fand diese um
sich greifende Sitte, sich bei einem Marathon verkleiden zu
müssen, unerträglich lästig. Über die
Köpfe seiner Vorderleute hinweg sah er vier Idioten, die sich
gemeinsam in ein Raupenkostüm gezwängt hatten. Neben ihm
drängelte ein Mann in einem Schlafrock, der eine
Köln-Fahne vor sich hertrug. Vor ihm tauschten zwei
Männer, die nicht aussahen, als wenn sie jemals das Ziel
erreichen würden, Erinnerungen vom letzten Jahr aus.
»Das war ein Erlebnis.«
Ja, das sollte dieser
Marathon auch für ihn werden. Eine neue Erfahrung, verbunden
mit einer neuen Einstellung zum Leben.
Den Körper in
jeder Phase mit jeder Faser spüren, so bewusst wie nie zuvor.
Den Kopf aufräumen, das Leben aufräumen, alles
Überflüssige rausschwitzen. Ein großes
Saubermachen. Als er das Ende des Tunnels erreichte, spürte er
eine große Erleichterung. Er hatte noch gut zwanzig Minuten
Zeit, bis seine Startgruppe loslaufen würde. Er suchte sich
einen ruhigeren Platz am Rand und begann, die Muskulatur zu
dehnen.
Ein
unerträglicher Moderator brüllte sinnloses Zeug in eine
übersteuerte Lautsprecheranlage. Krampfhaft versuchte der Mann
aus dem sportlichen Ereignis eine Karnevalssitzung zu machen.
Natürlich lief »Viva Colonia«. Wir glauben an den
lieben Gott und ham auch immer Durst - was für eine Zeile! Der
Moderator sang inbrünstig mit.
Die Gruppe mit den
Spitzenläufern war bereits unterwegs, die erste Startgruppe
mit Amateurläufern wartete im Startbereich auf das Kommando
des Brüllaffen am Mikrofon. Hier mischte sich die Prominenz
unters bunte Marathonvolk. Mehrere Politiker und Fernsehstars
hatten angekündigt, mitlaufen zu wollen. Gassmann erkannte
eine dicke Moderatorin aus einer Verkaufssendung im Fernsehen, die
nun nach mehreren Karriereflops ihre großen Brüste in
einen Sport-BH und ein viel zu enges rotes Leibchen quetschte, um
auch beim Köln-Marathon zu scheitern. Er war sich sicher, sie
sehr bald zu überholen, wenn sie nicht gleich auf den ersten
Kilometern aussteigen würde. Jetzt tat sie erst einmal alles,
um vom Moderator erkannt zu werden, der auf einer kleinen
Bühne an der Startlinie gerade »Und dann die Hände
zum Himmel« anstimmte. Die Fernsehmoderatorin schunkelte dazu
mit einem großen Mann, der den Marathon im Kostüm eines
Funkenmariechens laufen wollte.
»Das ist
schön, einen weiteren Promi begrüßen zu
können«, schallte es über die Lautsprecheranlage.
Sie war erkannt worden. »Und nicht vergessen: Immer
schön lächeln auf der Strecke. Wir wollen euch strahlen
sehen«, brüllte der Mann am Mikrofon, als ob er auf
Mallorca einen »Miss Bikini«-Tanzwettbewerb anheizen
müsste.
Dann begann er
zusammen mit dem Publikum rückwärts zu zählen. Unter dem
Jubel der Zuschauer startete die Gruppe auf die Strecke.
Gassmann stand auf und
ließ sich von der Menschenmenge in Richtung Startlinie
schieben. Er sollte in der vierten Gruppe mitlaufen. Seine hohe
Startnummer sorgte dafür, dass er viele Läufer
überholen würde, die vor ihm gestartet waren. Andere
konnte das zusätzlich motivieren. Ihm war das egal. Für
ihn zählte nur die eigene Leistung, die eigene Zeit. Die
anderen Läufer waren ihm diesmal völlig
gleichgültig.
Jeder versuchte auf
seine Art, sich für den Lauf in Stimmung zu bringen und etwas
gegen das berühmte Kribbeln im Magen und den sich
verstärkenden Drang, auf Toilette gehen zu
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