Marathon
müssen, zu
tun. Einige hüpften aufgedreht zur Musik oder klatschten im
Takt, andere starrten konzentriert auf ihre Fußspitzen. Ein
Mann mit Stirnband rannte in Trippelschritten auf der Stelle, ein
Läufer in Tuntenrosa programmierte seine Armbanduhr und schob
sich unauffällig in eine günstige Startposition. Ein
anderer begann, über ein Handy seinen eigenen Start zu
kommentieren. Spannung, Vorfreude, Gänsehaut und Euphorie
wirkten ansteckend. Weil das Stoffwechselsystem die Stresshormone
Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol ausschüttete, kamen bei
den meisten Herz und Kreislauf auf Touren, obwohl sie noch gar
nicht losgelaufen waren.
Jetzt, so kurz vor dem
Start, sahen sie alle noch aus wie Menschen. Schon bald würden
die ersten unterwegs ihre Würde verlieren, sich freiwillig vor
Publikum demütigen. Dann würden sich ihre
Gesichtszüge verformen und ihre Gliedmaßen verkrampfen.
Der Schweiß würde ihnen aus allen Poren fließen,
langsam die Kraft verloren gehen, die half, Schmerzen zu
überspielen. Es gab Tausende dieser Spezies, die den Marathon
liefen, obwohl sie dazu eigentlich gar nicht in der Lage waren. Das
war typisch männlich, fand Gassmann. Umso mehr wunderte er
sich über die in den letzten Jahren immer größer
werdende Anzahl weiblicher Läufer. Nicht dass er Frauen die
Teilnahme am Extremsport verweigern wollte. Er verstand nur nicht,
warum sich Frauen freiwillig so etwas antaten. Wenn ihnen
während des Laufs die Kraft verloren ging, sahen sie
noch fürchterlicher aus als ihre männlichen
Mitläufer. Eine überflüssige
Selbstentwürdigung.
1967 soll die erste
Frau verkleidet als Mann am Boston-Marathon teilgenommen haben.
Emanzipation? 1927, hatte er irgendwo gelesen, ließen
Männer Frauen mit Kinderwagen zur Volksbelustigung um die
Wette laufen. Was hätten die wohl gesagt, wenn man ihnen
erzählt hätte, dass man siebzig Jahre später
dreirädrige Kinderwagen kaufen konnte, die extra für
solche Veranstaltungen und für das Training zuvor gebaut
wurden, damit sich dann auch Männer mit kleinen Kindern in
Rennbuggys lächerlich machen konnten? Im letzten Jahr hatte
ein Läufer in einem Spezialgerät gar zwei Kinder vor sich
hergeschoben. Auch der Sinn dieser Aktion war ihm verborgen
geblieben.
Ihm war klar, dass er
mit seiner Sicht der Dinge ziemlich allein dastand. Der Marathon
war ein Ereignis für die Stadt, die Zuschauer und
natürlich auch die Läufer. Und selbst der Letzte, der
vielleicht erst in den Abendstunden ins Ziel wanken wird,
würde tagelang überglücklich durch sein weiteres
Leben humpeln. Einfach nur, weil er angekommen war.
Das Klatschen um ihn
herum wurde lauter. Aus den Boxen schepperte mittlerweile die
»Superjeilezick«. Seine Startgruppe hatte ihn in den
Startbereich geschoben. Die Enge und der Lärm wurden ihm
unerträglich. Es wurde Zeit, loszulaufen, um wieder atmen zu
können. Wieder wurde rückwärts gezählt, wieder
gejubelt, dann endlich setzte sich der Pulk in Bewegung. Als sie in
Zehnerreihen die Rampe zur Deutzer Brücke hochtrabten,
spiegelte sich die Sonne auf der Oberfläche des Rheins. Der
Himmel war jetzt völlig aufgeklart. Gassmann setzte zum ersten
Überholmanöver an.
41
»Selbstmord«, sagte
Remmer zynisch lachend. »Das gibt's doch gar nicht. Die
Pulsadern aufgeschnitten und von einer Rheinbrücke gesprungen,
wenn's nicht hier drinstünde, ich könnte nicht glauben,
dass das jemand glauben kann.«
»Es gab keine
Anzeichen dafür, dass das nicht stimmte«, sagte
Gröber, nachdem er die Akte durchgeblättert
hatte.
Sie hatten
Höllerbach in die Pathologie bringen lassen und den Fundort
der Leiche abgesucht. Sollte es hier einmal eine Spur gegeben
haben, hatte sie der Regen weggewischt. Der Mörder hatte in
einem Kraftakt die Leiche über das Eingangstor des
Kindergartens gewuchtet. Sie hatten einen Fetzen von
Höllerbachs Hose am Tor gefunden. Das war alles.
»Sie haben die
Eltern des Mädchens befragt, und die haben nichts gesagt von
Satan und Ritualen. War ihnen wohl peinlich. Vielleicht wussten sie
auch gar nichts davon«, überlegte Gröber. Er stand
am Fenster und sah auf die heute fast autofreie Kalker
Hauptstraße.
»Gröber,
Mann.« Remmer tippte sich an die Stirn. »Stell dir vor,
wir finden ein junges Mädchen nackt im Rhein, mit
aufgeschnittenen Pulsadern. Würden wir da
›Selbstmord‹ auf den Aktendeckel schreiben?«
Sie beugte sich über den Schreibtisch und schlug auf den
dünnen Ordner. »Nach so einer
Weitere Kostenlose Bücher