Marathon
hatten keine Waffe bei Lisas Vater gefunden.
Noch nicht einmal ein kleines Taschenmesser hatte er dabei. Nichts,
womit er einem anderen Menschen etwas antun könnte.
Darüber hinaus befand er sich in einem körperlichen Zustand,
der es ihm unmöglich gemacht hätte, ein paar schnelle
Schritte zu gehen und einen athletischen Mann wie Gassmann zu
überwältigen. Remmer war ratlos. Das alles ergab keinen
Sinn. Warum hatte Randberg an der Ziellinie gestanden?
»Haben Sie auf
Gassmann gewartet?«
Randberg blieb stumm.
Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu, ging in die Hocke, um dem
Mann in die Augen zu sehen, doch der wich ihr aus.
Sie holte tief Luft,
um sich zu beruhigen, forderte die Sanitäter auf, ihr Platz zu
machen, und setzte sich neben Randberg auf die Trage.
»Ihre Frau macht
sich große Sorgen, wissen Sie das? Sie hat Angst um Sie, weil
Sie sich nicht gemeldet haben.«
Remmer sprach jetzt
ganz ruhig auf den Mann ein.
»Sie glauben
nicht, dass Lisa sich das Leben genommen hat. Ich glaube das auch
nicht. Vielleicht hat man sie dazu getrieben, sie
verführt.« Sie machte eine kurze Pause, um ihrem
nächsten Satz noch mehr Wirkung zu verleihen.
»Vielleicht hat man sie sogar umgebracht.«
Sie glaubte, ein
leichtes Zucken durch Randbergs Körper gehen zu
sehen.
»Sie haben Lisas
Freunde gefragt, aber die haben Ihnen nichts gesagt, oder? Wollen
Sie wissen, wo Lisa in der Nacht vor ihrem Tod
war?«
Jetzt hatte sie ihn.
Randberg hob den Kopf, suchte jetzt seinerseits Augenkontakt.
Remmer sah einen schwachen, seit Jahrzehnten von tiefem Schmerz
geplagten Mann.
»Sie war mit
ihren Freunden auf dem Melaten-Friedhof. Eingebrochen sind sie da,
um so etwas wie eine schwarze Messe zu feiern.«
Randbergs Lippen
zitterten.
»Lisa
gehörte zu einer Gruppe, die seltsame Dinge getan hat. Und in
der Nacht auf dem Friedhof ist das Ganze wohl eskaliert. Es waren
Drogen und Alkohol im Spiel, Lisa hat mitgemacht. Wir wissen noch
nicht ganz genau, was da passiert ist.«
Randberg richtete sich
auf, schien sich zu sammeln, alle Kraft zusammenzunehmen. Für
einen Augenblick war es mucksmäuschenstill im Zelt.
»Ich möchte
meine Frau anrufen«, sagte er mit schwacher
Stimme.
Remmer musste sich
zusammenreißen. Sie verspürte wieder den Drang, diesen
Mann anzubrüllen. Er sollte endlich ihre Fragen
beantworten.
»Bitte«,
sagte er sanft.
Die Kommissarin gab
ihm wortlos ihr Handy.
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Gröber schaute
nach links und rechts, um sicher zu gehen, dass ihn niemand dabei
beobachtete, wie er nacheinander beide Beine zurücksetzte, die
Knie durchdrückte und die Muskeln anspannte. Er ließ
unauffällig die Hüfte kreisen. Softes
Aufwärmprogramm für den kommenden Spezialeinsatz; er
wollte in jedem Fall Kollegen-Spott über mangelnde
körperliche Fitness vermeiden. Ein paar Meter würde er
schon neben Gassmann herlaufen müssen, um ihn unauffällig
zum Aufgeben zu bringen.
Er dachte an das
Laufband in seinem Fitness-Studio. Genau drei Mal hatte er bislang
draufgestanden und sich fürchterlich gelangweilt. Man konnte
sich einen Kopfhörer aufsetzen und beim Laufen einen Fernseher
anstarren. Die Nachmittagstalkshow der Privatsender und die in
Gerichtssendungen schlecht nachgespielten Abgründe des Lebens,
die er sich da im Laufen ansehen musste, hatten ihn in der
Überzeugung bestärkt, dort etwas völlig
Widernatürliches zu tun. Daran änderte sich auch nichts,
als er das Laufband gegen ein Fahrrad eingetauscht hatte. Er
bewegte sich nicht mehr, um von einem Ort zum anderen zu kommen,
sondern nur noch um der Bewegung willen. Was für ein
Unsinn.
Bewegung als
Selbstzweck, weil der Mensch eben glaubt, immer in Bewegung sein zu
müssen. So wie die vielen Menschen, die jetzt hier an ihm
vorbeiliefen. Auch das hatte nicht wirklich Sinn, obwohl sie wenigstens
draußen herumliefen und nicht wie er trotz Anstrengung und
Rennerei auf der Stelle blieben.
»Ja, wenn man
vierzig wird, muss man was tun. Da kommt ja nix mehr von
selbst.« Er hatte sich manchen dummen Spruch zu Herzen
genommen, bevor er beschloss, den Jahresvertrag mit dem
Fitness-Studio einfach verfallen zu lassen. Und trotzdem: Wenn er
die athletischen, schlanken Läufer sah, die nun in immer
größerer Zahl die weniger sportlichen
Möchtegern-Marathonis aus den vorderen Startfeldern locker
abschüttelten, wurde er doch ein bisschen neidisch. Wie gut,
dass es da die gab, die sich überholen ließen:
schwitzende, schlappe Körper, die sich im
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